„Auschwitz stands as a tragic reminder of the terrible potential man has for violence and inhumanity.“
Billy Graham
Über 500 Ghettos errichteten die Nationalsozialisten in den von ihnen besetzten Gebieten, das mit Abstand größte davon in Warschau. Das Warschauer Ghetto wurde im Oktober 1940 von den Nationalsozialisten errichtet – heute steht es in der jüdischen Geschichte sinnbildlich für die Verfolgung und Auslöschung der polnischen Juden.
Dank einer wissenschaftlich arbeitenden Untergrundgruppe namens „Oneg Shabbat“ wissen wir heute sehr viel über die Lebensumstände der Ghetto-Bewohner. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf dieser Widerstandsgruppe „Oneg Shabbat“ und der Errichtung, der Entwicklung mitsamt Aufstand und Auflösung des Ghettos.
Zeitweise lebten hier fast eine halbe Million Menschen gleichzeitig auf engstem Raum. Damit war das Warschauer Ghetto das größte aller nationalsozialistischen Ghettos. Diese starke Konzentrierung hatte katastrophalste Lebensbedingungen und eine hohe Sterblichkeitsrate zur Folge, gleichzeitig entstand aber auch die „größte jüdische Stadt Europas“ (Marcel Reich-Ranicki).
Über diese „Stadt“ wissen wir heute ungeheuer viel: Es gibt eine Vielzahl von Fotos, Briefen, Tagebüchern, Ankündigungsplakaten, Zeitungsartikeln und offiziellen Dokumenten, die den Ghettoalltag dokumentieren. Selbst Kinderzeichnungen sind erhalten geblieben. Zu verdanken haben wir das einer Gruppe Intellektueller rund um den Historiker Emanuel Ringelblum, die im Untergrund des Warschauer Ghettos täglich ihr Leben riskierten. Allerdings nicht, um Waffen zu schmuggeln oder Sabotage zu leisten – sondern um eine Geschichte des Ghettos zu schreiben.
Die Gruppe gab sich selber den Tarnnamen „Oneg Shabbat“ und sammelte zehntausende Dokumente, die das Leben im Ghetto dokumentieren. 35.000 Seiten an Archivmaterial sind erhalten geblieben: sie erzählen eine Geschichte von der Errichtung der Ghettomauern 1940 bis zur Auflösung des Warschauer Ghettos im Mai 1943.
1. Entstehung des Warschauer Ghettos
Nur wenige Wochen nach dem Überfall auf Polen im September 1939 eroberte und besetzte die deutsche Wehrmacht Warschau. In der polnischen Hauptstadt lebten fast 400.000 Juden, die von Anfang an erheblichen und willkürlichen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt waren und die oft auch gewalttätig angegriffen wurden. Bereits im November 1939 wurden erste Teile der Altstadt zum „Seuchensperrgebiet“ erklärt und die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung eingeleitet. Ein gutes Jahr später, am 2. Oktober 1940, erfolgte dann der endgültige Befehl zur Bildung des Ghettos. Nur sechs Wochen hatte die gesamte jüdische Bevölkerung Zeit, in ein festgelegtes Gebiet zu ziehen (siehe Karte), während die dort lebenden nichtjüdischen Bewohner ihre Wohnungen verlassen mussten. Mit der Fertigstellung einer 18 Kilometer langen und drei Meter hohen Mauer, die das Gebiet vom Rest der Stadt abtrennte, war die Errichtung des Warschauer Ghettos Mitte November 1940 vollendet. nach oben ↑
2. Leben im Warschauer Ghetto
Wie alle anderen von den Nationalsozialisten errichteten Ghettos wurde auch das Warschauer Ghetto offiziell selbstverwaltet. Der sogenannte „Judenrat“ und sein Vorsitzender Adam Czerniaków unterstanden aber komplett der deutschen Besatzermacht. Zu den Aufgaben des Judenrats gehörten alle Aspekte der täglichen Verwaltung des Ghettos: Armenfürsorge und Aufrechterhaltung der Ordnung zählten genauso dazu wie die Überwachung der Einhaltung von deutschen Verordnungen und sogar die Vorbereitung von Deportationen der Juden.
Von Anfang an waren Lebensmittel im Warschauer Ghetto rationiert, eine Überbelegung der Wohnungen und dramatische Hygieneverhältnisse verschlechterten die Lebensbedingungen weiter. Besonders Kinder und ältere Menschen fielen Hunger und Seuchen zum Opfer, zehntausende andere Menschen wurden von der deutschen Besatzermacht umgebracht. Um überleben zu können, arbeiteten viele Ghetto-Bewohner für äußerst geringe Löhne für Warschauer Firmen, die für die Wehrmacht produzierten. Die Lebensbedingungen verschlimmerten sich 1941 und 1942 weiter, als die deutschen Behörden sogenannte „Einsiedlungen“ durchführten und fast 60.000 Juden aus dem Rest Polens ins Warschauer Ghetto deportierten.
Trotz der ständigen Überwachung durch die deutschen Behörden entwickelten sich Formen von Widerstand im Warschauer Ghetto. Anfangs ging es vor allem um das Lindern der katastrophalen Versorgungslage. Das Ghetto war nie vollständig isoliert, sodass Lebensmittel aus dem Rest Warschaus in den jüdischen Bezirk geschmuggelt werden konnten. Dabei bestand aber nicht nur die Gefahr, deutschen Kontrollen zum Opfer zu fallen, sondern auch, von teils sehr antisemitischen nichtjüdischen Polen verraten zu werden. Gleichzeitig entwickelte sich ein reges Kulturleben im Untergrund,
Es erlaubte den Bewohnern, wenigstens für kurze Zeit die menschenunwürdigen Bedingungen und den brutalen Ghettoalltag zu vergessen. Es gab Bibliotheken, Kinderbetreuung, Ausstellungen, sogar größere Konzert- und Theaterabende sowie eine Vielzahl von Untergrundzeitungen. Auch die Mitarbeiter von Oneg Shabbat arbeiteten bei der Erstellung ihres Archivs im Geheimen.
3. Oneg Shabbat
I do not ask for any thanks, for any memorial, for any praise. […] I only wish to be remembered“ – .
Testament von Israel Lichtenstein, Sommer 1942, Teil des Oneg Shabbat-Archivs
Bereits eine Woche nach Errichtung der Ghettomauern gründete Emanuel Ringelblum „Oneg Shabbat“ (der Name leitet sich vom geselligen Beisammensein am Freitagabend ab). Der polnische Historiker sah es als seine Aufgabe an, jüdisches Leben im besetzten Polen und die Zustände im Warschauer Ghetto zu dokumentieren. Vor allem ging es Oneg Shabbat darum, an die einzelnen Individuen, an die Männer und vor allem an die in der Geschichtsschreibung gerne vernachlässigten Frauen und Kinder zu erinnern. Von Anfang an regte Emanuel Ringelblum die Menschen im Ghetto daher dazu an, ihre Erfahrungen zeitnah aufzuschreiben. Der Historiker erkannte die reale Gefahr, dass spätere Aufzeichnungen leicht durch selektive Erinnerung verfälscht werden könnten. Vieles, was wir heute über die Anfangszeit des Warschauer Ghettos wissen, wäre im Nachhinein vielleicht nie aufgeschrieben worden, weil es weniger „schlimm“ war als das, was noch kommen sollte.
Oneg Shabbat sammelte alles, was in irgendeiner Weise den Ghetto-Alltag dokumentierte: amtliche Bekanntmachungen des Judenrats, Schulaufsätze, Tagebücher, Theaterkarten, Untergrund-Zeitungen – ja, sogar Bonbonpapiere. Die rund 60 Mitglieder von Oneg Shabbat – darunter auch der junge Marcel Reich-Ranicki – arbeiteten ungeheuer systematisch, und sie änderten dies auch nicht, als sie mit Andauern des Zweiten Weltkriegs zunehmend ihr Leben durch ihre Untergrundarbeit riskierten. Die Mitarbeiter machten zahlreiche Kopien von allen gesammelten Dokumenten und versteckten diese an unterschiedlichen Orten, sie setzten für die damalige Zeit hochmoderne soziologische Forschungsmethoden wie Umfragen ein und werteten alles Material in ausführlichen Berichten und Analysen aus.
4. Die Geschichte ab 1942: Aufstand, Auflösung des Ghettos und das Ende von Oneg Shabbat
Ab dem Frühjahr 1942 ging es Oneg Shabbat nicht mehr nur darum, das Ghettoleben für die Nachwelt zu dokumentieren, sondern auch um die Alarmierung der Öffentlichkeit. Die Gruppe interviewte Flüchtlinge aus ganz Polen und wusste daher sehr früh von Vernichtungslagern wie Treblinka. Emanuel Ringelblum und seine Mitstreiter verfassten ausführliche Berichte, die sie aus dem Ghetto schmuggelten und die dann vom polnischen Untergrund nach London gebracht wurden, wo sie den Alliierten als erste Beweise für die Massenvernichtung der Juden dienten. Oneg Shabbat war also nicht nur ein Archiv, sondern auch kriegstaktisch von großer Bedeutung.
5. Auflösung des Warschauer Ghettos
Am 22. Juli 1942 begann die Schutzstaffel (SS) in Warschau mit der Umsetzung der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“. Täglich wurden mehrere tausend Ghetto-Bewohner in Vernichtungslager deportiert, der Großteil von ihnen nach Treblinka. Adam Czerniaków, der Vorsitzende des selbstverwalteten Judenrats, wurde damit beauftragt, den deutschen Behörden bei der Auswahl der zu deportierenden Menschen zu helfen und beging daraufhin Selbstmord. In einem Abschiedsbrief schrieb er:
„Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben.“
Nach der Deportations-Welle im Sommer 1942 bestand das Warschauer Ghetto in seiner ursprünglichen Form nicht mehr. Das als „Restghetto“ bezeichnete Gebiet war nicht mehr zusammenhängend und viele Familienmitglieder wurden voneinander abgeschnitten – selbst wenn sie nur wenige Straßen voneinander entfernt wohnten. Alle im Warschauer Ghetto verbliebenen Bewohner waren Zwangsarbeiter, da die Bestätigung über eine Arbeitsstelle (vorerst) die Rettung vor Deportationen bedeutete. Anfang 1943 waren noch 35.000 – 40.000 Juden im Warschauer Ghetto gemeldet, dazu kamen bis zu 30.000 illegale und versteckte Bewohner. Im April 1943 kam schließlich der Befehl zur endgültigen Auflösung des Warschauer Ghettos.
6. Aufstand im Warschauer Ghetto
Wie bereits beschrieben, gab es seit seiner Gründung sehr viel Untergrundarbeit im Warschauer Ghetto. Anfangs ging es hier vor allem um das Schmuggeln von Lebensmitteln und das Ermöglichen eines illegalen Kulturlebens. Mit Beginn der Massendeportationen änderte sich dies schlagartig und mehrere Jugendgruppen schlossen sich zur „Jüdischen Kampforganisation“ (ZOB) zusammen. Im Angesicht ihres sicheren Todes begannen die Mitglieder der ZOB – gemeinsam mit vielen der verbliebenen Ghetto-Bewohner – am 19. April 1943 mit einem bewaffneten Aufstand.
Für mehrere Wochen gelang es den jüdischen Widerstandskämpfern, die endgültige Auflösung und Räumung des Warschauer Ghettos zu verhindern. Erst am 16. Mai 1943 erlangte die SS die Kontrolle wieder – nachdem sie das gesamte Ghetto-Gelände abgebrannt hatte. Alle überlebenden Bewohner wurden entweder direkt in Warschau erschossen oder nach Treblinka deportiert. Einigen der Widerstandskämpfer gelang aber die Flucht in den nicht-jüdischen Teil der Stadt, wo sie im August 1944 am „Warschauer Aufstand“ teilnahmen.
7. Das Ende von Oneg Shabbat
Die wenigen Mitglieder von Oneg Shabbat, die 1943 noch nicht deportiert oder umgebracht worden waren, arbeiteten bis zur letzten Minute daran, die von ihnen gesammelten Dokumente zu retten. Trotz der ständigen Bedrohung, von den Nationalsozialisten entdeckt zu werden, gelang es der Gruppe zu allen Zeiten, ihr Archiv geheim zu halten. Kurz vor der endgültigen Zerstörung des Warschauer Ghettos vergruben die letzten verbliebenen Mitglieder die Dokumente unter einer Ghetto-Schule.
Nur drei Mitglieder von Oneg Shabbat überlebten den Holocaust: Emanuel Ringelblums Stellvertreter Hersh Wasser, dessen Frau Bluma und die Autorin Rachel Auerbach. Nur dank Hersh Wasser – der als einer der wenigen Oneg Shabbat-Mitglieder das Versteck kannte – konnten große Teile des Archivs im September 1946 nach langwierigen Ausgrabungen geborgen werden.
Fast eine halbe Million Juden lebte zwischen 1940 und 1943 im Warschauer Ghetto, nur wenige tausend sollten den Holocaust überleben.
Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.
besagt eine oft zitierte jüdische Weisheit. Emanuel Ringelblum und Oneg Shabbat verdanken wir es, dass die Erinnerung an die Warschauer Juden bis heute lebt.
Artikel erstmals erschienen am 1. Februar 2015
Lilly Maier, Jahrgang 1992, studierte an der Universität München Geschichte und als Fulbright-Stipendiatin an der New York University Journalismus. 2018 erschien ihr Buch „Arthur und Lilly. Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende“, die Biografie eines der Kinder, die Ernst Papanek gerettet hat. Ihre Arbeit über die langfristigen Nachwirkungen der Kindertransporte wurde mit dem „Forscherpreis für exzellente Studierende 2014“ ausgezeichnet. Derzeit promoviert sie mit einer Arbeit über Frauen als Retterinenn von Juden in Frankreich. Lilly Maier ist als Referentin in der KZ-Gedenkstätte Dachau tätig, als freiberufliche Journalistin schreibt sie u. a. für den „Kurier“, „The Forward“ und „PolitiFact.com“.
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Literatur und Auswahlbibliografie
- Roth, Markus und Löw, Andrea: Das Warschauer Getto: Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung. München 2013*.
- Kassow, Samuel: Ringelblums Vermächtnis: Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos. Hamburg 2010*.
- Im Warschauer Getto. Das Tagebuch des Adam Czerniaków 1939–1942, ed. von Marian Fuk. München 1986*.
- Sakowska, Ruta: Die zweite Etappe ist der Tod. NS-Ausrottungspolitik gegen die polnischen Juden gesehen mit den Augen der Opfer. Ein historisches Essay und ausgewählte Dokumente aus dem Ringelblum-Archiv 1941-1943. Berlin 1993*.
- The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. Volume 2. New Haven und London 2008*.
- www.yivoencyclopedia.org