Als der bedeutendste Kaiser des Frühmittelalters Karl der Große 814 verstarb, trat sein einzig verbliebener und legitimer Sohn, Ludwig der Fromme (Bild links), die Nachfolge an. Somit konnte das Frankenreich nicht – wie sonst üblich – unter den Söhnen des verstorbenen Königs aufgeteilt werden. Die Reichseinheit bestand erstmals fort – sozusagen „durch Zufall“. Die Einheit sollte allerdings nicht von Dauer sein. Infolge von andauernden Auseinandersetzungen zwischen den Söhnen Ludwig des Frommen musste das Frankenreich erneut mehrfach geteilt werden. Vielfältige Teilungsverträge wurden geschlossen und die häufigen Reichsteilungen sind prägend für die späte Karolingerzeit. Die mit Abstand bedeutendste Reichsteilung fand sich allerdings im Vertrag von Verdun. Er sollte den Grundstein für das moderne Europa legen.
Keinesfalls dessen Wunschnachfolger war Ludwig der Fromme nach dem Tode Karls des Großen 814. Dank „fehlender Alternativen“ übernahm er als einziger legitimer Sohn des Kaisers dessen Nachfolge – gegen den Wunsch des Hochadels. Bei mehreren Nachfolgern hätte das altgermanisch-fränkische Teilungsrecht – niedergeschrieben in der „Lex Salica“ – bestimmt, dass nach dem Tod eines Frankenherrschers das Reich unter den Söhnen aufgeteilt werden sollte.
Die Ordination Imperii und die Vorgeschichte des Vertrags von Verdun
Nachdem die Einheit des karolingischen Frankenreichs erstmals gewahrt geblieben war, fand sich 817 – ebenfalls zum ersten Mal in der Geschichte des Karolingerreichs – der Versuch, die Einheit des Gesamtreichs per Dekret (in der Karolingerzeit Capitularie gennant) sicherzustellen. Das von Ludwig dem Frommen erlassenen Gesetz hatte den Namen Ordinatio Imperiii. Hinter dem Anliegen einer Einheit des Gesamtreichs stand auch die Kirche, die unitären Grundzüge auch in der weltlichen Politik verwirklicht sehen und das ursprünglich germanische Teilungsrecht zurückdrängen wollte.
Die Idee von der unteilbaren Einheit des karolingischen Reich Gottes gab Ludwig der Fromme selbst allerdings sukzessive wieder auf. Hintergrund bildete die Geburt seines 4. Sohnes Karl des Kahlen (violette Linie *840). Schon zuvor war Ludwig der Fromme seit 794 mit Ermengrad, Tochter des Grafen Ingram, verheiratet gewesen, die ihm schon drei Söhne geschenkt hatte: Lothar I (grüne Linie *795), Pippin (*797) und Ludwig der Deutsche (rote Linie *806).
Infolge von teils äußerst blutigen und folgenreichen innerdynastische Kämpfen zwischen den (Halb-)Brüdern während der Regierungszeit Ludwig des Frommen – bei denen Ludwigs Sohn Pippin verstarb – wurde bald ein erneuter Teilungsplan nötig. So kehrten die Frankenherrscher mit dem Vertrag von Verdun 842, drei Jahre nach dem Tod Ludwig des Frommen, zum germanischen Prinzip der Reichsteilung unter den Königssöhnen zurück. Er wurde in umfangreichen Verhandlungen im Oktober 842 in Koblenz von 110 Gesandten der beteiligten Könige vorbereitet. Ein Vertrag wurde geschlossen, der für die Zukunft Europas große Bedeutung haben sollte.
Aufteilung des Reichs im Vertrag von Verdun
Im Gegensatz zur Ordinatio Imperii ist der Vertrag von Verdun nicht in einer Vertragsurkunde überliefert, beschreibende zeitgenössische Quelle geben aber ein gutes Bild der Vertragselemente. Im Vertrag von Verdun teilten die drei verbliebenen Söhne Ludwig des Frommen – die Brüder Lothar, Ludwig und Karl – das Frankenreich untereinander auf. Dabei behielt Lothar seinen Kaisertitel und bekam die Lombardei als Kernland und ein „Schlauch“- bzw. „Mittelreich“ von der Nordsee bis Mittelitalien, das so genannte Lotharii Regnum (gelber Kartenbereich). An Karl den Kahlen fiel das Westfrankenreich. Er wurde mit Aquitanien als Kernland ausgestattet und bekam Teile des fränkischen Kernlandes westlich der Rhön, Maas und Seine (grüner Kartenbereich), und damit den Ursprung des späteren Frankreichs. Ludwig der Deutsche erhielt Bayern als Kernland und die Reichsteile östlich des Rheins (roter Kartenbereich), den Ursprung des späteren Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation).
Die Kriterien, nach denen die Reichsteilung im Vertrag von Verdun durchgeführt wurde, hat die historische Forschung im Verlauf der Zeit ganz unterschiedlich Interpretiert. Die nationalistische Forschung des 19. Jahrhunderts ging mit ihren wichtigen Vertretern Jules Michelet und Augustin Thierry davon aus, dass die Gebietsteilungen im Vertrag auf Volk- und Sprachzugehörigkeit beruhten. Laut dieses Interpretationsansatzes waren schon damals Frankreich und Deutschland entstanden. Diese Forscher zogen aber noch weiterreichende Schlussfolgerungen: Das „Schlauchreich Lothars“ zwischen den Gebieten hätte in der Folgezeit einen Zwischenraum zwischen den Nationen geschaffen. Dieser „Problembereich“ sei in der Folgezeit dann für die (kriegerischen) Auseinandersetzungen zwischen den Nationen (mit)verantwortlich gewesen.
Dieser Interpretationsansatz des Vertragswerks gilt mittlerweile als überholt: Die neuere Forschung (vertreten vor allem von François Louis Ganshof) hat im 20. Jahrhundert belegt, dass nationale oder gar völkische Überlegungen keinerlei Rolle gespielt haben. Vielmehr sollten die hochadeligen Gefolgsleute der jeweiligen Herrscher und ihre Besitztümer in deren Teilreiche integriert werden. Die sogenannten „Großen“, die Hochadeligen des Reichs, hatten auch bei der Vertragsgestaltung eine wichtige Rolle neben den jeweiligen Königen gespielt. Auch nach dem Vertragsschluss betrachteten die fränkischen Herrscher ihr Reich als staatspolitische Einheit – wenn auch nun mit aufgeteilten Zuständigkeitsbereichen.
Nichtsdestotrotz: Der neueste Forschungsstand besagt auch, dass die Reichsteilung im Vertrag von Verdun letztendlich die Grundlage für die spätere Entstehung eines deutschen und französischen Staates bildete. Allerdings entstanden diese beiden modernen Nationen erst infolge des Vertrags. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses existierte demnach keinesfalls schon ein nationales Bewusstsein. Die damaligen Teilungsgründe bestanden nicht in nationalpolitischen Überlegungen und die fränkische Idee der „Brudergemeinschaft (corpus fratrum)“, die schon auf Karl den Großen zurückgeht, blieb weiterhin erhalten. Die Ordinatio Imperii allerdings und mit ihr die Idee eines unteilbaren Karolingerreichs scheiterte mit dem Vertrag endgültig. Das moderne Europa hatte seine Geburtsstunde erlebt.
Folgen: Verfall der karolingischer Macht und Zerfall des Kaiserreichs
Auf der Idee der corpus fratrum beruhend, fanden 847 und 851 noch zwei so genannte „Frankentage“ bei Meersen statt, auf denen man – als Brudergemeinde – nochmals „fraternitas et caritas“ bekräftigte: Brüderlichkeit und Hilfsbereitschaft. Als 855 nach dem Tod Lothars I sein Reich unter seinen drei Söhnen Ludwig II, Lothar II und Karl aufgeteilt wurde, endete die Idee der „Brudergemeinschaft“ (corpus fratorum). Hintergrund war, dass das Karolingerreich nun aus fünf Teilreichen unterschiedlicher Größe bestand, regiert von zwei Generation Frankenherrschern. Die spätere Generation fühlte sich nicht mehr an die Idee der Brudergemeinschaft gebunden. Deswegen brachen in der Folgezeit die Unruhen und Bruderkriege erneut aus. Die Phase war gekennzeichnet von wechselnder Bündnispolitik der Onkel mit den Neffen, die in einer ganzen Reihe erneuter Bruder- und Onkel-gegen-Neffen-Kriege mündete.
Als 877 nach einer langen Phase wechselvoller Bündnisse und Kriege mit Karl dem Kahlen der letzte Sohn Ludwig des Frommen starb, erbte 884 Karl III, Sohn Ludwig des Deutschen, das Gesamtreich. Zu diesem Zeitpunkt war die Auseinanderentwicklung des Frankenreichs schon so weit fortgeschritten, dass Karl III de facto nicht über ein Gesamtreich herrschte, sondern über mehrere Teilreiche. Das äußerte sich unter anderem in der Datierung seiner Urkunden nach gesonderten Herrscherjahren in und gesonderte Reichstagen für die Reichsteile.
Als sich Karl III als nicht fähig erwies, die immer bedrohlichere Gefahr durch Normannen-Einfälle in das Reich einzudämmen, wurde er von den Großen (den Hochadeligen) des ostfränkischen Reichs abgesetzt. Er starb 888. Nun trat Arnulf von Kärnten die Nachfolge an, ein illegitimer Sohn Ludwig des Deutschen.
Er lehnte die Herrschaft über das Westfrankenreich gänzlich ab. In den anderen karolingischen Teilreichen gelangten so Herrscher aus anderen Adelsgeschlechtern an die Macht, wie beispielsweise die Robertiner mit Odo in Hochburg und oder der Welfe Rudolf im nordalpinen Lotharringen. Kaiser Arnulf von Kärnten erkannte diese „Usupatoren“ als Könige an. Es bestand lediglich eine lose lehensrechtliche Oberhoheit.
Als Kaiser war Arnulf von Kärnten nur noch für das ostfränkische Reich zuständig. Als nach dem Tod Arnulfs 899 auch noch dessen Sohn, Ludwig das Kind verstarb, fand die ruhmreiche Dynastie der Karolinger ihr Ende. Die neue starke Familie des Ostfrankenreichs, die Konradiner, konnte sich zur Herrscher- und Kaiserfamilie aufschwingen. Zuvor rangen die Konradiner in blutigen Machtkämpfen – unter anderem in der Babenberger Fehde – die anderen führenden Familien im Ostfrankenreich nieder.
Artikel erstmals veröffentlicht am 9. Februar 2015
Google und Geschichte – Robin Brunold studierte neuere und Neueste Geschichte, Mittelalterliche Geschichte und politische Wissenschaften und absolvierte seinen Magisterabschluss im Januar 2013 an der LMU München. Davor hat er die Waldorfschule Ismaning besucht und mit dem externen Abitur abgeschlossen. Heute arbeitet er selbstständig im Bereich Suchmaschinenmarketing und als Freier Historiker.
Literatur und Auswahlbibliographie
- Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900. Berlin-Köln 1990*.
- Hlawitschka, Eduard: Vom Frankenreich zur Formierung der europäischen Staaten- und Völkergemeinschaft 840-1046. Ein Studienbuch zur Zeit der späten Karolinger, der Ottonen und der frühen Salier in der Geschichte Mitteleuropas. Darmstadt 1986*.
- Schieffer, Rudolf: Die Karolinger. Stuttgart-Berlin-Bonn 2000*. (Studienbuch)
- Becher, Matthias: Merowinger und Karolinger. Darmstadt 2009*. (Studienbuch)