Der Wandervogel und die Frage nach Alkohol auf Wanderschaft im Verein

Die Wandervogel-Bewegung und ihr Symbol: Der Greif
Die Wandervogel-Bewegung und ihr Symbol: Der Greif | Lizenz: Public domain.

Im Bürgertum des späten 19. und frühen 20 Jahrhunderts wurden alkoholgegnerische Bestrebungen insbesondere in der Jugendbewegung virulent. Dabei ist der bürgerliche Wanderverein „Der Wandervogel“ von besonderem Interesse. Er gilt gemeinhin als Ursprung der Jugendbewegung und war teilweise stark lebensreformerisch orientiert. Gegründet 1901 sollten die Schüler von erfahrenen studentischen Begleitern geführt und unter anderem gegen die „Verlockungen der Großstadt” immunisiert werden. Dazu zählte man auch den Alkohol.

Gegründet wurde der bürgerliche Wanderverein „Wandervogel“ 1901 in Steglitz bei Berlin, als am ortsansässigen Gymnasium die Schüler-Wandergruppen unter einem organisatorischen Dach zusammengefasst wurden. Die Schüler, im Wandervogel fortan „Scholare“ genannt, sollten von sogenannten „Bachanten“ – erfahrenen studentischen Führern – auf Wanderschaft begleitet und geleitet werden. Die Zielsetzung war vor allem pädagogischer Natur. Die Schülergruppen sollten für die Schulverwaltung, die Öffentlichkeit und vor allem für die Elternschaft fassbar und kontrollierbar gemacht werden. Auf ihren Wanderfahrten versuchten die jugendlichen Wandervögel mit möglichst geringem Kostenaufwand eine möglichst unberührte Natur zu bereisen, was oft die Übernachtung in Scheunen oder im Freien zur Folge hatte. nach oben ↑

Der Wandervogel und die Lebensreform

Die Wandervögel | Foto: Julius Groß, © Archiv der deutschen Jugendbewegung

Bekundungen nach außen zufolge – vor allem an Eltern und Lehrerschaft gerichtet – gingen die Bestrebungen des Wandervogels aber über den Zweck des reinen Wanderns hinaus. Sie waren auch in den Kontext der Lebensreformbewegung eingebettet. So sollte die Jugend ihre Freizeit durch Wandern sinnvoll nutzen.

Der Sinn für die Natur sollte geweckt und darüber hinaus universelle Werte wie Kameradschaftlichkeit und Selbstständigkeit vermittelt werden. Auch fungierte das Wandern als sinnvolle Alternative zu den „Verlockungen der Großstadt“, unter denen man Müßiggang, aber auch Alkohol und Nikotin einreihte.
Innerhalb weniger Jahre verbreitete sich der Vereinsgedanke des Wandervogels über den gesamten deutschsprachigen Raum. Schnell wuchs die die Bewegung an. Das rapide Wachstum des Vereins führte aber gleichzeitig zu wachsenden ideellen und auch ideologischen Meinungsverschiedenheiten. nach oben ↑

Die Nebenwirkung des Wachstums – Meinungsverschiedenheiten und Abspaltungen

Bündische Lieder und Romantik am Lagerfeuer. Aber auch Alkohol? Nur eine der Frageb, die den Wandervogel spaltete | Foto: Julius Groß, © Archiv der deutschen Jugendbewegung

Diese Meinungsverschiedenheiten hatten vielfältige Abspaltungen und Neugründungen zur Folge. Neben der Frage, ob Mädchen und junge Frauen an den Wanderfahrten teilnehmen sollten, war besonders die Frage der Alkoholabstinenz umstritten. Der Hintergrund: Betrachtet man Gemeinsamkeiten und Überschneidungen der Wandervogelbewegung mit der Lebensreformbewegung genauer, so fallen diese oftmals wesentlich geringer aus als es die Selbstdarstellung des Vereins nach außen vermuten lässt – zumindest zunächst.


Denn in der Frühphase der Bewegung wurden die damals üblichen Trinkbräuche beim Wandern relativ unreflektiert von den Wandervögeln übernommen. Vorbehalte dagegen griff man noch überhaupt nicht auf. So kam es, dass auch die Zusammenarbeit der Wandervogel-Führer mit den Lehrern und Eltern ihrer Schützlinge Trinkgelage auf Wanderfahrten nicht gänzlich verhinderte. So sang man auf Wanderfahren nicht nur die – heute auch noch populären – Wandervogel-Lieder. Auch Biertrinken war unter Wandervögeln durchaus verbreitet und Tabak wurde auf großer und kleiner Fahrt nicht selten konsumiert. Trinkgelage nahmen jedoch nie exzessiven Charakter an. Der damals weit verbreitete Branntweinkonsum fand quasi überhaupt nicht statt. Die bescheidenen finanziellen Verhältnisse auf Wandervogel-Fahrten, die sich die Teilnehmer in Eigeninitiative auferlegt hatten, machten ausgedehnte Zechgelage aus „monetären Gründen“ gar nicht erst möglich. nach oben ↑

Kein Alkohol auf Wanderschaft (!?) – Der Wandervogel und die Anti-Alkohol-Bewegung

Studentengruppe im Freien beim Biertrinken
Alkoholkonsum: Die Frage „Ja oder Nein“ spaltete die verschiedenen Vereine der Wandervögel | Foto: Julius Groß, © Archiv der deutschen Jugendbewegung

Die Anliegen der Anti-Alkohol-Bewegung selbst wurden erst später in den Wandervogel getragen. Die alkoholgegnerisch-lebensreformerischen Strömungen kamen dabei nicht aus den Reihen der Bewegung selbst, sondern wurden von außen durch die bürgerliche Abstinenzbewegung in den Wandervogel integriert. Die Anstöße kamen dabei vor allem von Mitgliedern verschiedener studentischer Abstinenzvereine. Die abstinent organisierten Mitglieder verfolgten die Strategie, Mitglieder des Wandervereins langsam und behutsam durch fortgesetzte Agitation an die Ideale der Bewegung heranzuführen.

Bald führten die alkoholgegnerischen Bestrebungen auf der Generalversammlung des Verbands zu einem Antrag, sämtlichen Alkoholkonsum auf Fahrten der Wandervögel zu verbieten. Die Ablehnung des Antrags endete im Eklat: Die alkoholgegnerischen Kräfte im Wandervogel-Verein spalteten sich ab und ihre Führer gründeten den Verein „Wandervogel, Deutscher Bund für Jugendwanderungen“. Die nun quasi autonomen Wandervögel schrieben den Verzicht von Alkohol auf Wanderfahrten als Grundregel fest und der „neu“ gegründete Verein fand rasch Zulauf. nach oben ↑

Reizthema Alkoholfrage – Das Scheitern der Wiedervereinigung

Die strikten Regeln in Bezug auf den Umgang mit Alkohol ließen in der Folgezeit alle Versuche der Wiedervereinigung des „neuen“ mit dem „alten“ Wandervogel scheitern. Weder war man auf Seiten der „neuen Wandervögel“ bereit, den Grundsatz der Alkoholfreiheit auf Wanderungen aufzugeben, noch konnte man sich im Alt-Wandervogel zu einer strikten Abstinenzregelung auf Wanderfahrten durchringen. Als man dort die Alkoholfrage als Hindernis für eine mögliche Wiedervereinigung der beiden Verbände diskutierte, wurde die starre Position des Alt-Wandervogelverbands im Hinblick auf die der Alkoholfrage auf einem Treffen der beiden Wandervogelverbände 1910 deutlich. Zwar war man sich auch im Alt-Wandervogel einig, dass auf Wanderfahrten der Alkohol ein schlechter Gefährte sei und nahm im Anschluss an das Treffen den Grundsatz in die Satzung auf, dass im Interesse der Jugend der Alkohol auf Wanderfahrt zu „meiden“ sei.

Ein generelles Alkoholverbot allerdings stellte sich im „Alt-Wandervogel“ als nicht konsensfähig heraus: Pauschale Verbots-Regelungen seien eine unangemessene Bevormundung der Mitglieder, so die Meinung der Hauptverantwortlichen im Verein. Deswegen sollte es dem jeweiligen Führer der Wanderung überlassen bleiben, ob jener die Wanderfahrt alkoholfrei durchführen möchte oder auch nicht. Auf jeden Fall sollte vermieden werden, dass der Wandervogel zu einer Unterabteilung der Abstinenzbewegung degradiert würde. Weiterhin sei ein Totalverbot wegen der ausgeprägten alkohlgegnerischen Einstellung des Wandervogels auch gar nicht nötig. Letztendlich kann konstatiert werden, dass ein generelles Alkoholverbot im Gesamt-Verband „Der Wandervögel“ nicht konsensfähig war und auch blieb.

Literatur und Auswahlbibliographie:
  • Torp: Konsum und Politik in der Weimarer Republik. 2011.
  • Linse, Ulrich: Der Wandervogel; in: Etienne, François (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl. 2007.
  • Linse, Ulrich: „Wir sträuben uns auch ein wenig gegen fanatische Reformer“. Jugendbewegter Lebensstil oder lebensreformerische Jugenderziehung? Am Beispiel der Alkohol-Frage im Wandervogel und in der Freideutschen Jugend; in: Herrmann, Ulrich (Hrsg.): „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung. 2006.
  • Mogge Winfried: Aufbruch einer Jugendbewegung. Wandervogel: Mythen und Fakten; in: Weißler, Sabine (Hrsg.) Fokus Wandervogel. Der Wandervogel in seinen Beziehungen zu den Reformbewegungen vor dem Ersten Weltkrieg. 2001. S. 12