Am Beginn der Ära Adenauer stand die Sozialpolitik der Bundesrepublik vor größten Herausforderungen: Der Wiederaufbau des stellenweise fast gänzlich zerstörten Deutschlands. Aber auch die Versorgung der Kriegsopfer, Hinterbliebenen und Alten stellte sich den Sozialpolitikern als wahre „Mammutaufgabe“. Neben dem wirtschaftlichen Aufschwung durch das Wirtschaftswunder halfen eine Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen, die drängenden sozialpolitischen Probleme in den Griff zu bekommen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gestaltete sich die Situation in den Westzonen stellenweise dramatisch: Von 10,6 Mio. Wohnungen waren 2,3 Millionen völlig zerstört, weitere 2,3 Mio. schwer beschädigt worden. Darüber hinaus galten 20 % der Industrieanlagen als vollkommen zerstört (eine Zahl, die in der sowjetischen Besatzungszone noch höher lag). Weiterhin waren 1949 14 Mio. militärische und zivile Kriegsversehrte zu beklagen. Weiterhin galt es mehr als 8 Millionen Vertriebene zu integrieren, die bis 1950 in die Bundesrepublik gekommen waren.
Umso erstaunlicher erscheint heutzutage der relativ rasche Aufschwung, der schon bald in den frühen 50er Jahren einsetzte. Einen wesentliche Faktor der Konsolidierung in der jungen Bundesrepublik Deutschland stellten einerseits die wirtschftspolitischen Weichenstellungen der fest mit dem Namen Ludwig Erhard verbundenen sozialen Marktwirtschaft dar, die mit einer Steigerung der Beschäftigungsmöglichkeiten und der Steuereinnahmen verbunden waren. Bis 1960 war es allen Arbeitsfähigen möglich, einen Arbeitsplatz zu finden. So kam es zu einem Anstieg des Lohnniveaus auch in den unteren Lohngruppen. Die Notwendigkeit sozialpolitischer Intervention sank also von vornherein beträchtlich.
Einen nicht unerheblichen Anteil an der zügigen Lösung der immensen sozialen Probleme nach dem Zweiten Weltkrieg trug aber auch eine Reihe gesetzgeberischer Maßnahmen unter Bundeskanzler Adenauer bei, die im Nachfolgenden ihre Darstellung finden sollen. Dabei eröffneten auch die steigenden Steuereinnahmen durch das Wirtschaftswunder den Sozialpolitikern Spielräume, um entsprechende Programme finanzieren zu können, ohne andere Haushaltsposten angreifen zu müssen. nach oben ↑
Bundesversorgungs-, Bundesheimkehrer- und Bundeswohnungsbau-Gesetz
Die wohl drängendste aller Fragen – die des massiv zerstörten Wohnraums – nahm man 1950 mit dem Wohnungsbaugesetz in Angriff. Innerhalb von 6 Jahren sollten drei Mio. Wohnungen gebaut werden; ein Ziel, das auch erreicht wurde. Gemeinnützige Bauträger schulterten den Wohnungsneubau selbst. Der Bau wurde allerdings von einer Reihe staatlichen Subventionen unterstützt, indem Bund und Länder unverzinste Baudarlehen mit einer 30-35jährigen Tilgungsfrist aus Haushaltsmitteln bereitstellten. Das Gesetz hatte Erfolg: So konnte der Wohnungsbedarf von ca. 8 Millionen Flüchtlingen weitestgehend gedeckt werden. Die indirekten staatlichen Subventionen verliehen der Bauwirtschaft und damit dem Wirtschaftswunder zusätzliche Schubkraft.
Die Kompensation der negativen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Kriegsfolgen wurde 1950 mit dem Bundesversorgungs- und Bundesheimkehrer-Gesetz in Angriff genommen. In dessen Rahmen erhielten Geschädigte – auf Antrag – eine vom Staat getragene, umfassende Versorgung. Darin eingeschlossen waren die Heilbehandlung, (Hinterbliebenen-)Rente mit Pflegezulage, Bestattungsgeld und Sterbegeld (für Hinterbliebene). Weiterhin erleichterte das 1953 beschlossene Schwerstbehindertengesetz die Integration von bedingt arbeitsfähigen Kriegsopfern. nach oben ↑
Das „Lastenausgleichsgesetz“ und die „Große Rentenreform“
Nicht unumstritten war eine weitere bedeutende sozialpolitische Maßnahme der Ära Adenauer: Das sogenannte „Lastenausgleichsgesetz“. Es kam 1952 auf Druck der Vertriebenen-Partei „BHE“ (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) zustande, die 1953 auch im Bundestag vertreten war. Das Ziel des Gesetzes bestand darin, dass den mit am schwersten von den Kriegsfolgen betroffenen Menschen, den Vertriebenen, ein gewisser Ausgleich für die erlittenen Schäden gewährt werden sollte. Konkret wurde dies über eine sozialpolitische Haushaltsumlage geregelt, für welche die weniger Geschädigten aufkamen. Bis zu einer gewissen Maximalhöhe erstattete der Staat dabei alle Vermögensverluste, die Vertriebene in der (östlichen) Heimat erlitten hatten; Bei sehr großen Vermögen allerdings teilweise nur 2 % des ursprünglichen Werts. Nichtsdestotrotz wurde den Vertriebenen damit ein gewisser Ausgleich gewährt, der auch einen psychologischen Effekt hatte. Außerdem ließ sich zu Zeiten des Wirtschaftswunders mit dem erhaltenen Geld recht schnell wieder etwas aufbauen.
Das Gesetz erleichterte so die Integration der Vertriebenen und verhindert deren weitere Radikalisierung. Dies trug wohl auch dazu bei, dass der BHE 1961 aufhörte, eine eigenständige Partei zu sein.
Noch für die heutige Zeit ist die „Große Rentenreform“ von 1957 von Bedeutung. Oft als „Wahlgeschenk“ vor der Bundestagswahl 1957 bezeichnet, beendete diese Reform gleichzeitig einen für Rentner bedauernswerten Zustand. Senioren hatten im sozialpolitischen Gefüge nach 1949 finanziell gesehen lange das Nachsehen gehabt. Oft lagen die Renten unterhalb des Existenzniveaus; die gesetzliche Mindestrente lag 1950 bei genau 50 Mark. Im Zuge der Reform dynamisierte der Gesetzgeber die Rente. Das bedeutete die Aufhebung der bisherigen Kapitaldeckung und die Finanzierung durch das Einkommen der arbeitenden Bevölkerung. Bei steigender Lohnentwicklung bedeutete dies langfristig eine aufwärts strebende Renten-Entwicklung. Die Maßnahme hatte aber im Februar 1957 auch eine sofortige Rentenerhöhung zwischen 67 und 72 % zur Folge. Bei der Wahl 1957 konnte sich Konrad Adenauer der Stimmen der meisten Rentner Deutschlands sicher sein, die nun ebenfalls am Wirtschaftsaufschwung partizipierten. nach oben ↑
Neuregelung des Tarif- und Arbeitnehmerrechts
Nicht nur die direkten sozialpolitischen Maßnahmen wirkten sich in der Ära Adenauer positiv auf die (Wieder-)Herstellung des sozialen Friedens in Deutschland aus. Von Bedeutung erscheint dabei auch die Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik, die für bedeutende Veränderungen im Verhältnis zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern sorgte. Schon 1949 kam es zur Neuregelung des Tarifrechts und der damit verbundenen Einführung der Tarifautonomie. Es galt fortan das Prinzip, dass Tarifverträge über selbstständige Vereinbarungen zwischen den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften ausgehandelt wurden. Staatliche Zwangsschlichtungen – wie in der Weimarer Republik durch den Reichsarbeitsminister geschehen – gehörten der Vergangenheit an. Genauso wie die Politisierung der Lohnfrage, welche die Weimarer Republik mehr als einmal im Atem gehalten und einen nicht unerheblichen Anteil an der politischen Instabilität gehabt hatte. So erstarkte in den 50er-Jahren, auch vor dem Hintergrund des grassierenden Arbeitskräftemangels, die Gewerkschaftsmacht. Unter anderem durch den Einsatz von Streik(drohungen) konnten die Gewerkschaften die schrittweise Einführung der 40-Stunden Woche in allen Branchen bei vollem Lohnausgleich, einen gesetzlichen Anspruch auf Urlaub und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und ab der 2. Hälfte der 50er Jahre jährlich auch kräftige Lohnerhöhungen durchsetzen. Da das Lohn-Ausgangsniveau von 1948 sehr niedrig lag, profitieren die Arbeitgeber in Deutschland im internationalen Vergleich trotz der großen Macht der Gewerkschaften noch von niedrigen Lohnstückkosten. Das Wirtschaftswunder geriet auch durch die Macht der Arbeitnehmervertreter nicht in Gefahr.
Im Bereich der Wirtschaftsordnung und der Betriebsstrukturen allerdings konnten die Gewerkschaften ihre Forderungen nur teilweise durchsetzen. Nicht nur der Anspruch nach Sozialisierung der Wirtschaftsordnung – den manche Gewerkschaften in den 50 Jahren noch aufrecht erhielten – musste aufgegeben werden. Mit dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 beschloss der Gesetzgeber zudem, dass die Arbeitnehmervertreter nur ein Drittel der Aufsichtsratsposten besetzen dürfen. Auch beschränkten die Arbeitsmarktpolitiker die Betriebsräte in ihren Aufgaben auf personelle und soziale Belange. Die paritätische Mitbestimmung blieb den Arbeitnehmern nur in der Montanindustrie erhalten, die aber bald an Bedeutung verlor.
Zwar war die Frustration der Gewerkschafts-Bosse über die in ihren Augen verpassten Chancen groß. Letztendlich sicherte die (eingeschränkte) Mitbestimmung den Arbeitnehmervertreten aber durchaus wirkungsvolle Kontrollinstrumente. Die Belegschaften waren grundsätzlich vor unternehmerischer Willkür geschützt, die notfalls auch mit Hilfe der mächtigen Gewerkschaften abgewehrt werden konnte. Konflikte innerhalb der Betriebe konnten wurden in der Bundesrepublik nun in geregelter Form ausgetragen werden, als in den vergangenen deutschen Staaten. Zu Gewalt im Betrieb kam es nach 1945 fast nie mehr. nach oben ↑
Bewertung: Eine weitgehend gelungene Sozialpolitik
Bewertet man die sozial- und tarifpolitischen Maßnahmen der Ära Adenauer in ihrer Gesamtheit, lässt sich eine recht umfassende soziale Befriedung der Bundesrepublik einerseits und eine weitgehende sozialpolitischen Integration der Arbeiterschaft in den 50er Jahren andererseits konstatieren. Letztendlich sprechen auch Historiker mit SPD-Parteibuch, wie Kurt Sontheimer, von einer weitgehend erfolgreichen Sozial-Politik Adenauers: Die immensen sozialen Probleme konnten aufgrund der positiven wirtschaftlichen Entwicklung und der angemessenen Sozialgesetzgebung weitestgehend gelöst werden. Somit trug die Sozialpolitik der erweiterten Nachkriegszeit wesentlich zur sozialen Befriedung und Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bei.
Die sozialpolitischen Weichenstellungen der Ära Adenauer bildeten fortan das Grundgerüst der sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik. Dabei lassen die sozialpolitischen Gesetze der Ära Adenauer oft einen ausgesprochenen Kompromisscharakter erkennen, der nicht selten in einem Interessenausgleich der rechten bürgerlichen Parteien – an einer Restaurierung der Vorkriegs-Besitzverhältnisse und der sozialdemokratischen Orientierung an aktuellen Bedürfnissen der Menschen zum Ausdruck kommt. Nichtsdestotrotz blieben aber auch weiterhin Versorgungslücken im sozialen Netz der Bundesrepublik bestehen: Die Untervorteilung der Familienförderung von einkommensschwachen Großfamilien (bei gleichzeitiger Übervorteilung einzelner sozialer Gruppen, v. a. der Beamtenschaft.)
Titelfoto: KAS/ACDP 10-001: 26 CC-BY-SA 3.0 DE |*KAS = Konrad Adenauer Stiftung
Google und Geschichte – Robin Brunold studierte neuere und Neueste Geschichte, Mittelalterliche Geschichte und politische Wissenschaften und absolvierte seinen Magisterabschluss im Januar 2013 an der LMU München. Davor hat er die Waldorfschule Ismaning besucht und mit dem externen Abitur abgeschlossen. Heute arbeitet er selbstständig im Bereich Suchmaschinenmarketing und als Freier Historiker.
Literatur und Auswahlbibliographie:
- Bührer, Werner: Die Adenauer-Ära. Die Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1963. 1993*.
- Geppert, Dominik: Die Ära Adenauer. 2012.*.
- Morsey, Rudolf: Die Bundesrepublik Deutschland. 2000*.
- Görtemaker, Manfred: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. 2012*.
- Sontheimer, Kurt: Die Adenauer-Ära. Grundlegung der Bundesrepublik. 1991*.
- Winkler, Heinrich August.: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte. 2005.*.