Wer an die Geschichte des deutschen Judentums denkt, der denkt häufig an die grausame Verfolgung und Ermordung deutscher Juden durch das NS-Regime zwischen 1933 und 1945. Dieser Blickwinkel leuchtet zwar spontan ein. Allerdings erscheinen dann oft sämtliche deutschen Juden als passive Opfer eines aus den Fugen geratenen Nationalismus.
In diese Perspektive passt Max Naumann nicht hinein. Gemeinsam mit seinem Verband nationaldeutscher Juden propagierte er einen vehementen deutschen Nationalismus, dem sich alle deutschen Juden anschließen sollten. Dabei wurde er oft als jüdischer Antisemit, wenn nicht sogar als eine Art jüdischer Faschist betrachtet. Doch wie sah sein Nationsverständnis genau aus und wie versuchte er, mit dem Loyalitätskonflikt zwischen deutscher und jüdischer Identität umzugehen? Und gab es für ihn überhaupt einen Loyalitätskonflikt?
1875-1920: Der Aufstieg als Bildungsbürger
Als Max Naumann am 12. Januar 1875 in Berlin geboren wurde, befand sich die Situation der deutschen Juden im Umbruch. Die Verfassung des neu gegründeten Kaiserreichs gewährte ihnen erstmals die völlige rechtliche Gleichstellung mit Nichtjuden. Viele ihrer Vorfahren waren als Kaufleute bereits zu beträchtlichem Wohlstand gelangt. Nun jedoch schafften viele von ihnen den Weg ins Bildungsbürgertum. Zu ihnen zählte auch Naumann. Sein Vater Markus, ein wohlhabender Tuchhändler aus dem preußischen Landkreis Deutsch-Krone, erfüllte noch die damals gängigen antisemitischen Klischees. Max´ Großvater mütterlicherseits war ebenfalls ein wohlhabender Bankier mit nicht unbeträchtlichem Grundbesitz. Max selbst studierte jedoch Jura an der Berliner Universität, wo er sich für einen erbrechtlichen Fokus entschied. Außerdem wurde er zu dieser Zeit Mitglied der studentischen Verbindung Brandenburgia. Damit war er in großem Umfang in das deutsche Bürgertum der damaligen Zeit integriert. Dies galt allerdings auch für viele andere gebildete Juden, die neben ihrem Engagement in spezifisch jüdischen Organisationen auch zahlreichen Interessenverbänden gemischter Konfession angehörten. Die Zugehörigkeit zum Judentum und zur deutschen Nation standen sich dabei nicht gegenseitig im Weg, sondern waren gleichberechtigte Aspekte persönlicher Identität, die beide sorgsam gepflegt wurden.
Doch gab es trotzdem nach wie vor Schattenseiten. Dazu gehörten vor allem die misstrauischen bis feindseligen Einstellungen, die der Staat Juden nach wie vor entgegenbrachte. Auch Naumanns berufliche Optionen wurden dadurch eingeschränkt. So war es jüdischen Juristen damals kaum möglich, im Staatsdienst zu arbeiten. Dem aufstrebenden Bildungsbürger stand damit lediglich eine Tätigkeit als Freiberufler offen. 1899 gelang ihm immerhin die Vollendung seiner Promotion, ehe er zunächst zum Rechtsanwalt und später zum Notar zugelassen wurde. Mit diesem beruflichen Erfolg war sein Ehrgeiz jedoch noch nicht befriedigt. Denn wie viele andere Bildungsbürger im Kaiserreich hoffte auch Naumann auf den Posten des Reserveleutnants. Dieser Status genoss auch in der Zivilgesellschaft vielerorts hohes Ansehen. Allerdings stand Naumann vor einem großen Problem: Der Erwerb des Reserveoffizierspatents für jüdische Rekruten war in Preußen so gut wie unmöglich. 1902 konnte er sein Ziel trotzdem erreichen, indem er vorübergehend nach Bayern umsiedelte. Offenbar war Naumann nicht bereit, sein jüdisches Glaubensbekenntnis vollständig über Bord zu werfen, obwohl viele spätere Kritiker ihm genau dies vorwarfen. Trotz seines betont assimilierten Auftretens, ging er doch nicht so weit, sich taufen zu lassen, um in seiner preußischen Heimat Reserveoffizier werden zu können.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 wurden Naumanns Absichten allerdings umso klarer: Er wollte sich als Deutscher unter Deutschen präsentieren. So machte er als sehr guter Soldat von sich reden. Darüber hinaus beeindruckte er seine Kameraden und Vorgesetzten durch seinen hohen Bildungsgrad und höfliche Umgangsformen. 1916 wurde er zum Hauptmann befördert und erwarb im Anschluss mehrere militärische Auszeichnungen von teils herausragender Bedeutung: Sowohl das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse als auch den Bayerischen Militärverdienstorden IV. Klasse konnte er schließlich sein Eigen nennen. Er kämpfte nicht nur 15 Monate lang an der Westfront, sondern konnte auch seine juristischen Fähigkeiten als Kriegsgerichtsrat am Gouvernementsgericht Posen einsetzen. Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands und dem Ende des Kaiserreichs im November 1918 wurde es jedoch erneut schwierig für ihn. Denn viele Zeitgenossen machten nun die friedensbereiten Politiker für die deutsche Niederlage verantwortlich. Nun hieß es, das eigentlich unbesiegte Heer, sei auf diplomatischem Wege von hinten „erdolcht“ worden. Auch das gesamte Judentum wurde dabei oft als Drahtzieher verdächtigt. Solche Vorwürfe kamen nicht aus heiterem Himmel. Schon im Krieg hatte der Staat eine Zählung sämtlicher Juden in der Armee angeordnet, denn Juden galten häufig als schwach, unmännlich und nicht wehrhaft genug. Deshalb wurde ihnen unterstellt, sie würden sich vor dem Wehrdienst drücken. Nach der Kriegsniederlage wurden die völkischen Parteien und Verbände, denen Juden als Landesverräter galten, immer größer und zahlreicher.
Dabei hatten viele Juden, unter ihnen auch Naumann, sich für das gemeinsame deutsche „Fronterlebnis“ begeistert. Nun fühlten sie sich durch den massiv anwachsenden Antisemitismus zu Unrecht verdächtigt, ja sogar gekränkt und in ihrem ehrlichen Kriegseinsatz verkannt. Obwohl es eine allgemeine Kriegsbegeisterung nie gegeben hatte, identifizierte Naumann sich mit diesem Mythos und hielt weiter an ihm fest. Mehr noch: Sein Ziel war es nun, diese vermeintliche deutsche Euphorie und das dahinterstehende Gemeinschaftsgefühl über das Kriegsende hinaus zu erhalten. Sein Anwaltsberuf wurde für ihn immer mehr zur Nebensache, die fast ausschließlich seiner Versorgung diente. Was ihn nun hauptsächlich bewegte, war die Politik. Immer mehr Deutsche, darunter sowohl Juden als auch Nichtjuden, begannen nun, regelmäßig über eine „jüdische Frage“ zu diskutieren. Jüdisches Leben in Deutschland galt nicht mehr als selbstverständlich, sondern wurde zu einem kontroversen Streitpunkt. Auch Naumann beschäftigte sich nun intensiv damit, wie ein jüdischer Beitrag zur deutschen Nation aussehen sollte. Diese Frage prägte sein ganzes weiteres Leben und sein politisches Engagement.
1920-1930: Politik und Publizistik
1920 meldete sich Naumann mit einem scharfen Artikel zu Wort, der in der nationalliberalen Kölnischen Zeitung erschien. Dieser Beitrag trug den Titel: Vom nationaldeutschen Juden. Doch dabei sollte es nicht bleiben, denn noch im selben Jahr brachte er eine knapp 20-seitige Broschüre mit dem gleichen Titel heraus. Diese Schrift kann als seine politische Grundsatzerklärung und als Leitfaden des Verbands nationaldeutscher Juden gelten. Ganz unterschiedliche ethnische und politische Gruppierungen wurden in Naumanns Werk mit harscher Kritik überzogen. Er bezeichnete osteuropäische Juden als „Bazillus“ und die Protagonisten des völkischen Nationalismus in Deutschland als „geisteskranke Fanatiker und eiskalte Drahtzieher“.
Der Fokus lag allerdings auf der Drei-Wege-Theorie, die Naumann entwickelte. Demnach ließen sich die deutschen Juden in drei unterschiedliche Gruppen einteilen: „nationaldeutsche“ Juden, Zionisten und unentschlossene „Zwischenschichtler“. Diese Gruppen hatten sich nach Naumanns Einschätzung voneinander getrennt, sobald die Juden das mittelalterliche und frühneuzeitliche Ghetto verlassen hatten und in denselben Vierteln verkehren durften wie ihre nichtjüdischen Landsleute.
Die erste Gruppe bezeichnete Naumann als „nationaldeutsch“. Für diese Menschen sei ihr Judentum eine rein religiöse Angelegenheit, ähnlich wie Katholizismus und Protestantismus. Wirklich entscheidend sei für sie einzig und allein ihre Zugehörigkeit zum deutschen Volk. Den „Nationaldeutschen“ stellte Naumann die Zionisten gegenüber. Diese würden sich nicht mehr an die deutsche Nation gebunden fühlen, sondern strebten stattdessen die Errichtung einer eigenen jüdischen Nation in Palästina an. Die Zugehörigkeit zum Judentum sei für sie nicht in erster Linie eine religiöse Frage, sondern eine Frage der Abstammung. Tatsächlich setzte Naumann die Zionisten in diesem Punkt weitgehend mit deutschvölkischen Nationalisten gleich: Beiden Gruppen warf er vor, zu viel Wert auf die Abstammungsfrage zu legen und nationale Identität ausschließlich hiervon abhängig zu machen. Zwar glaubte Naumann, bestimmte anatomische Merkmale wie Gesichtsform oder Körperbau zu erkennen, die angeblich alle Juden gemeinsam hätten. Derartige Formen von biologischem Rassismus waren damals in weiten Teilen Europas und Nordamerikas üblich und galten oft als wissenschaftlich anerkannt. Ausschlaggebend für die Existenz einer Nation war in Naumanns Augen allerdings das Gemeinschaftsgefühl, das ihre Mitglieder miteinander verbinden sollte. Um eine eigene jüdische Nation zu begründen, reichten körperliche Ähnlichkeiten demzufolge nicht aus.
In anderer Hinsicht war Naumanns Definition allerdings ausgesprochen strikt. Denn Völker und Kulturen betrachtete er als klar getrennte Einheiten. Gegenseitige Einflussnahme, kultureller Austausch oder gar Multikulturalismus waren für ihn absolut tabu. Deshalb sah er auch Zionismus und „nationaldeutsches“ Judentum als zwei völlig verschiedene Welten. Solange beide Parteien sich aus den Angelegenheiten der jeweils anderen heraushielten, sah Naumann dies allerdings nicht unbedingt als Problem. Denn die gleichzeitige Existenz eines jüdischen Nationalstaats und eines deutschen Staats mit jüdischen Angehörigen sei sehr wohl möglich und könne sogar zu einer klaren und ehrlichen Klärung der Fronten beitragen. Dass die Zionisten in allen Staaten der Welt nach Anhängern suchten und daher als „internationale“ Bewegung auftraten, empfand Naumann jedoch als durchaus problematisch. Generell pflegte er ein starkes Misstrauen gegenüber allem, was er als „international“ empfand. Ähnlich wie anderen Vertretern eines vehementen deutschen Nationalismus diente ihm diese Formulierung des Öfteren als politischer Kampfbegriff. So würden Zionisten zunächst versuchen, die leicht verführbaren Kinder deutscher Juden für ihre Zwecke zu gewinnen. Grundsätzlich aber sei eine friedliche Einigung zwischen „nationaldeutschen“ Juden und Zionisten durchaus erwünscht, solange beide Seiten entschlossen ihren eigenen Weg gingen, ohne einander in die Quere zu kommen.
Das Hauptproblem stellten aus Naumanns Sicht die Vertreter der dritten Gruppe dar: die sogenannten „Zwischenschichtler“ oder „Jüdischnationalen“. Unter dieser „Zwischenschicht“ verstand Naumann all jene deutschen Juden, die sich nicht entscheiden könnten, wohin sie gehörten. Sie seien arglistig, verschlagen und unfähig, konstruktive Entscheidungen zu treffen und dadurch Dinge aufzubauen. Darum würden sie auf einer jüdischen Sonderrolle mit eigenen kulturellen Vorrechten in Deutschland beharren, anstatt konsequent dem zionistischen Weg zu folgen; also entweder auszuwandern oder sich unter Fremdenrecht stellen zu lassen. Kurzum: Alles erdenklich Schlechte, was Antisemiten den Juden vorwarfen, treffe angeblich nur auf die „Zwischenschicht“ zu.
Daher rief Naumann seine jüdischen Mitbürger dazu auf, sich entweder für das Deutsche Reich oder den Zionismus zu entscheiden: „Was übrig bleibt, ist wert, daß es zugrunde geht.“ Nur wenn die Juden sich ihrer nationalen Zugehörigkeit vollumfänglich bewusst seien, werde auch der Antisemitismus aus Deutschland verschwinden. Letztlich erinnern Naumanns Vorstellungen jedoch an ethnopluralistische Ideen jüngeren Datums: Jedes Volk war ihm angeblich gleich viel wert, allerdings nur, solange es sich an seinem vermeintlich angestammten Platz aufhielt.
„Jeder ‘anständige‘ Antisemit gibt zu, daß es ‘anständige‘ Juden gibt. Aber er hält sie für Ausnahmen, die nur die Regel bestätigen. Er wird aufhören, ein Antisemit zu sein, wenn wir ihm beweisen, daß die Juden, die fühlen wie er, nicht nur Einzelerscheinungen sind, daß sie eine starke Gruppe in der Gesamtheit der deutschen Juden bilden. Er wird bereit sein, mit uns zusammen gegen alle Feinde des Deutschtums, jüdische wie nichtjüdische, zu kämpfen, wenn wir ihm dartun, daß wir nicht eine Handvoll Ueberläufer sind, sondern ein Heer, das von dem gleichen Geiste beseelt ist wie das seine.“
M. N.: Das Programm der nationaldeutschen Juden. In: Mitteilungsblatt des Verbandes nationaldeutscher Juden, 1. Jg. (September 1921) Nr. 1, S. 1f.
Am 20. März 1921 gründete Naumann in Berlin mit sechs weiteren Mitstreitern, darunter der Sanitätsrat Alfred Peyser und der Chefredakteur des Berliner Lokal-Anzeigers Samuel Breslauer, den VnJ. Obwohl Naumann sich nun wiederholt vom gesellschaftspolitisch ausgerichteten Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) abgrenzte, blieb er doch zugleich immer noch dessen Mitglied. Allerdings verschärfte sich seine Kritik zusehends. Der CV, so Naumann, sei reif zum Zusammenbruch, denn er verkörpere sämtliche Probleme der „Zwischenschicht“ und könne sich nicht entscheiden, ob er für einen deutschen oder einen jüdischen Nationalismus stehe. Mit solchen Parolen hoffte Naumann wohl, im CV neue Anhänger für seinen eigenen Verband zu finden. Falls dies sein Plan war, blieben die Erfolge allerdings bescheiden. Der CV blieb, obwohl Naumann wiederholt seinen Untergang prophezeite, der größte und wichtigste jüdische Verband in Deutschland. Ebenso wie Naumann waren allerdings auch dem CV die Palästina-Fonds der Zionisten ein Dorn im Auge. Diese sollten genügend Geld sammeln, um eine gezielte jüdische Siedlungspolitik in Palästina zu ermöglichen. Im CV wurden sie vehement abgelehnt. Gewisse Übereinstimmungen zwischen dem Centralverein und dem Leiter des VnJ hätte es also durchaus gegeben. Naumann war allerdings zu kompromisslos, um dies zu erkennen.
Auch Naumanns Vorliebe für das Militär half ihm bei der friedlichen Einigung mit anderen jüdischen Kräften nicht unbedingt weiter. Die größte Interessenvertretung jüdischer Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg war in Deutschland der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. Auch er war alles andere als zionistisch eingestellt. Dennoch bezweifelte Naumann im Mai 1922 den Patriotismus des Reichsbunds, nachdem dieser eine gemeinsame Diskussion zwischen Juden und Nichtjuden organisiert und den VnJ nicht eingeladen hatte. So bezeichnete er die Organisation als „Reichsbund jüdischer Einheitsfront-Soldaten“. Die jüdischen Feinde Deutschlands wolle der Bund in Wahrheit gar nicht bekämpfen. Dem CV-Mitglied Paul Nathan, der das Treffen organisiert hatte, warf Naumann vor, gar kein „Frontsoldat“ zu sein, was sich vermutlich nicht nur auf seine Verbandszugehörigkeit bezog, sondern auch darauf, dass er nicht selbst im Krieg gekämpft hatte. Abschließend verglich er das deutsche Judentum mit einer Truppe, die nur schlagkräftig sein könne, wenn sie einem einheitlichen „Führerwillen“ gehorche. Nur dieser Führerwille sei in der Lage, die wahren Bedürfnisse der Untergebenen auszudrücken und zu erfüllen. Ähnlich wie bei vielen anderen Bewohnern der Republik blieb der Krieg also in Naumanns Sprache allgegenwärtig. Wer nicht gekämpft hatte, galt ihm offenbar als Deutscher zweiten Ranges. Wie viele andere Zeitgenossen sehnte er sich zudem nach einer starken Führung, die die Deutschen nach ihrer Kriegsniederlage wieder zu Ruhm und Ansehen bringen sollte, auch wenn unklar blieb, wer dieser Anführer sein sollte.
Neben militärischer Kampfbereitschaft gehörte auch eine vermeintlich unverfälschte deutsche Sprache zu den Themen, die ihn besonders umtrieben. Jiddische Wörter wie „Schnorrer“, in denen sich die spezifische Eigenart der deutschjüdischen Kultur widerspiegelte, erregten dementsprechend sein Missfallen. Mit wenig Humor quittierte er außerdem jiddische Witze, die karikierend mit antisemitischen Vorurteilen umgingen oder gar über Nichtjuden spotteten. Solche vermeintlichen Überheblichkeiten vonseiten deutscher Juden sorgten Naumann zufolge nur dafür, zusätzliches Öl ins Feuer des Antisemitismus zu gießen.
Er sprach wortwörtlich von einer „Ueberfremdung“ Berlins und schätzte, dass sich unter sechs Menschen in der Berliner U-Bahn mindestens vier Ausländer befänden. Der internationale und multikulturelle Charakter dieser Großstadt blieb ihm offenbar ein Stück weit suspekt, obwohl er selbst dort aufgewachsen war. Er bediente damit das häufig anzutreffende Klischee der Berliner Innenstadt als Moloch, der in den 1920er Jahren angeblich als Sammelpunkt für zwielichtige Subjekte und als Schauplatz für ein exzessives, rücksichtsloses und unmoralisches Leben diente.
Diese Vorstellungen waren bei ihm eng mit einer latenten Ausländerfeindlichkeit verknüpft. So meinte er, eine „Einkreisung“ Deutschlands in dessen eigener Hauptstadt zu beobachten. Er spielte damit auf die Botschafter und Gesandten der Entente-Kommissionen an, die Berlin relativ häufig und zahlreich besuchten. Auch hier hinterließ der Krieg bleibende Spuren in seinem Weltbild.
Mit einem solch eigenwilligen politischen Kurs fiel es Naumann entsprechend schwer, geeignete politische Verbündete zu finden. Er selbst war Mitglied der nationalliberalen DVP. Zwar erkannte er die Leistungen des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert an, obwohl er den Empfang des Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation Chaim Weizmann in Berlin durch Ebert kritisierte. Als im April 1925 der ehemalige Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt wurde, rief Naumann jedoch dazu auf, den neuen Amtsinhaber zu unterstützen und sich geschlossen hinter diesen zu stellen. Dabei hoffte er, der ehemalige Militär würde die starke und geschlossene Haltung der Deutschen gegenüber dem Ausland verkörpern. Der neue Reichspräsident schien für ihn die starke „überparteiliche“ Führungsinstanz zu verkörpern, die er sich erhoffte. Interessanterweise berief Naumann sich jedoch nicht nur auf nationalistische Argumente und militärische Ideale der Kameradschaft und Loyalität, sondern forderte seine Leser auch dazu auf, das demokratische Wahlergebnis zu akzeptieren.
Trotz dieser Rhetorik blieb Naumanns Abgrenzung vom Gedankengut der radikalen Rechten nicht immer glaubwürdig. Dies lag auch an den Begriffen, die er bevorzugt verwendete. 1923 kam er zu dem Schluss, dass nur eine deutsche „Volksgemeinschaft“ den französischen und belgischen Truppen im Rheinland widerstehen könne. Eine ähnlich große Gefahr sah er jedoch in den zahlreichen osteuropäischen Juden, die sich im Reich niedergelassen hatten.
Eine Ausländerfrage hat sich vor uns Deutschen aufgetürmt, neben der alles klein und harmlos erscheint, was wir bisher mit diesem Namen bezeichnet haben. Wir haben den Feind im Lande!
Max Naumann: Ausländergefahr und Ostjudengefahr. In: Mitteilungsblatt des Verbandes nationaldeutscher Juden, 3. Jg. (Januar/Februar 1923), Nr. 1, S. 1.
Hierbei handelte es sich entweder um ehemalige Kriegsgefangene der Deutschen oder um Flüchtlinge, die von den gewaltsamen antisemitischen Ausschreitungen in den osteuropäischen Kriegen und Bürgerkriegen bedroht waren. Anders als in Mitteleuropa lebten die Juden im Osten des Kontinents teils nach wie vor in geschlossenen Siedlungen. Deshalb pflegten sie oft orthodoxe religiöse Bräuche und Kleidungssitten, die viele jüdische und nichtjüdische Deutsche als fremdartig empfanden. Naumann hielt sich zu diesem Thema rhetorisch nicht zurück. Er sah die osteuropäische Einwanderung als Bedrohung des gesamten westlichen Kulturkreises und sprach von einer „ostjüdischen Invasion“. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien oder den USA werde dadurch der Antisemitismus gefördert. In einem vielbeachteten Artikel, der Ende 1922 in der Kölnischen Zeitung unter dem Pseudonym J. Hobrecht erschienen war, hatte Naumann bereits zuvor die einreisenden Ostjuden als bedrohliche „Sturmflut“ charakterisiert. Seine Wortwahl und Argumentation zeigten somit Schnittmengen zu völkischen Nationalisten auf.
Andererseits wurde der Begriff „Volksgemeinschaft“ nach dem Ersten Weltkrieg von erstaunlich vielen Deutschen verwendet. Obwohl man ihn heute meistens mit der NS-Sprache assoziiert, war er zwischen 1919 und 1933 sogar von einigen sozialdemokratischen Politikern zu hören. Es handelte sich also nicht oder zumindest nicht nur um ein Erkennungszeichen der radikalen Rechten. Vielmehr wurde auch dieser Begriff massiv durch das empfundene Gemeinschaftsgefühl des Ersten Weltkriegs popularisiert.
Ab Mitte der 1920er Jahre gestaltete sich Naumanns Verhältnis zum Zionismus immer unversöhnlicher. Da die britische Regierung den Zionisten mit der Balfour-Deklaration 1917 ihr Wohlwollen für die Errichtung eines jüdischen Staats in Palästina zugesichert hatten, erschien dieser künftige Staat Naumann als eine Art britische Kolonie. Nicht nur innerjüdische Streitigkeiten waren also für seine Positionen ausschlaggebend, sondern auch sein Ärger über die ehemaligen Kriegsgegner, deren Weltmachtstellung ihm missfiel. Insofern überrascht es kaum, dass ihm eine jüdische Siedlungspolitik in Palästina lieber gewesen wäre, wenn dieses sich immer noch unter der Herrschaft der Osmanen befunden hätte, die im Krieg aufseiten Deutschlands gekämpft hatten. Naumanns Äußerungen zeigen, dass die Gründung eines jüdischen Staats in Palästina bereits umstritten war, lange bevor dieser entstand. Nach dem Zweiten Weltkrieg kritisierten Antizionisten meist die USA als Hauptunterstützer Israels. Für Naumann waren es die Briten.
Daß die Araber nicht ohne Schuld sind, ist unstreitig. Von ihnen sind die ersten Gewalthandlungen begangen worden, wie schon in den Jahren 1920 und 1921. Diese Fellachen und Beduinen führen den Kampf gegen die verhaßten Eindringlinge mit der ganzen hemmungslosen Grausamkeit, deren primitive Völker fähig sind.
Max Naumann: Shylock der Zionist. In: Der nationaldeutsche Jude, 9. Jg. (Oktober 1929) Nr. 10, S. 1.
Das bedeutete allerdings nicht, dass Naumann für die arabischen Palästinenser besondere Sympathien übrighatte. Die Gewalttätigkeiten zwischen jüdischen und arabischen Bewohnern der Region fielen ihm zwar auf. Allerdings betrachtete er die Gräueltaten von arabischer Seite nur als natürlich, denn hierbei handelte es sich in seinen Augen um ein primitives Volk, das den Standards westlicher Zivilisation nicht entspreche. In dieser Haltung stimmte er nicht nur mit den meisten Europäern seiner Zeit, sondern auch mit seinen zionistischen Gegnern vollkommen überein.
Als sicheres Wohngebiet für deutsche Juden betrachtete er diese Region jedenfalls nicht. Da Palästina niemals 500.000 Juden aufnehmen könne, erschien es ihm zunehmend sinnlos, von einem gemeinsamen Judentum als Einheit zu sprechen. Die Juden in aller Welt waren aus seiner Sicht viel besser beraten, wenn sie sich in ihren jetzigen Heimatländern um Anerkennung bemühten. Da die Weimarer Republik sich in den 1920er Jahren immer weiter festigte, schien vorläufig auch nichts dagegen zu sprechen, dass das Deutsche Reich weiterhin ein sicherer Ort für deutsche Juden sein würde; zumindest noch nicht.
1926 gab Naumann den Verbandsvorsitz an Peyser ab. Mit seinen Veröffentlichungen beeinflusste er die Ausrichtung des VnJ jedoch immer noch stark. Im April 1929 äußerte er sich zum siebzigsten Geburtstag von Kaiser Wilhelm II., der nach seiner Absetzung im niederländischen Exil im Haus Doorn lebte. Eine große Nostalgie gegenüber dem Kaiserreich und der Person des Monarchen zeigte Naumann dabei nicht. Wilhelm war aus seiner Sicht ein klarer Antisemit. Dieses Urteil erschien sehr einleuchtend, denn der Ex-Kaiser und sein Sohn pflegten auch im Exil weiterhin Kontakte zu völkischen Gruppierungen und Aktivisten. Darüber hinaus warf Naumann dem Ex-Kaiser eine ziellose Politik und eine gefährliche Art des internationalen Auftretens vor. Grundsätzlich allerdings verspürte Naumann wenig Lust, sich eindeutig für die Republik oder für die Monarchie auszusprechen. Ihm ging es nach eigenem Bekunden allein um die Erhaltung des „Deutschtums“. Diese Position war damals allerdings gar nicht so einzigartig wie es schien. Denn selbst in der ursprünglich kaisertreuen DNVP begannen sich einige Politiker allmählich zu fragen, ob ein konservativer deutscher Staat nicht auch auf republikanischer Basis existieren könne. Dass Wilhelm demnächst auf den Thron zurückkehren würde, war jedenfalls kaum zu erwarten.
Politik im engeren Sinne war allerdings nicht sein einziges Interesse. So versuchte er 1926, seine Kriegserlebnisse in einer autobiographischen Schrift zu verarbeiten. Dieses Werk sollte ursprünglich den Titel Der Mäusebock tragen, erschien jedoch letztlich nicht. Naumanns literarischer Ehrgeiz beschränkte sich daher auf einige Gedichte und auf massive Kritik an anderen jüdischen Autoren. Dabei bemühte er sich allerdings nicht darum, Literaturkritik von identitätspolitischen Zielen zu trennen. Kurt Tucholsky warf er eine feindselige Einstellung gegenüber den Deutschen und Sympathien für die französischen Kriegsgegner vor. Daher sei der Jude Tucholsky in Wahrheit mitverantwortlich für den deutschen Antisemitismus.
Auch der Versuch des Arztes Felix Theilhaber, das Liebesleben Johann Wolfgang von Goethes psychoanalytisch zu untersuchen, stieß erwartungsgemäß nicht auf Naumanns Gegenliebe. Theilhaber versuche angeblich auf indiskrete und ungehörige Weise, den Geschehnissen in Goethes Schlafgemach auf den Grund zu gehen.
Naumann hingegen betrachtete Goethes Werk als Heiligtum, das durch das Privatleben des Dichters unbelastet bleibe. Die deutsche Literatur und ihre Protagonisten mussten für Naumann moralisch einwandfrei bleiben. Kratzer am Lack seines deutschen Nationalbewusstseins wollte er keineswegs dulden, erst recht nicht, wenn sich andere Juden hierbei hervortaten.
1930-1939: Naumann und der Nationalsozialismus
Zu Beginn der 1930er Jahre wurde die politische Großwetterlage für Naumann immer aussichtsloser. Seine Mitgliedschaft in der DVP bot ihm kaum noch die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, denn ihre Wahlergebnisse wurden schlechter und schlechter. Der liberale Nationalismus im Deutschen Reich trat immer weiter in den Hintergrund und wurde durch radikale Lösungsansätze verdrängt. Aus Naumanns Sicht wurde es nun immer verlockender, sich selbst auf einen radikalen Rechtskurs zu begeben. Vorerst versuchte er jedoch noch, die verfeindeten politischen und paramilitärischen Gruppen zur Mäßigung aufzurufen. Die Uniformträger, die sich auf deutschen Straßen bewaffnet gegenüberstanden, schwächten in seinen Augen die Einheit der Deutschen und damit auch die außenpolitische Machtposition des Reiches.
Wir würden unser Deutschland weiter lieben, selbst wenn einmal seine Regierung für Zeit nicht eine Regierung der Vernunft, sondern des Nationalsozialismus sein sollte
Max Naumann: Deutsche trotz allem! In: Der nationaldeutsche Jude, 10. Jg. (Oktober 1930) Nr. 9, S. 2.
Den Nationalsozialisten stand er zunächst misstrauisch gegenüber. Noch im Oktober 1930, unter dem direkten Eindruck der Reichstagswahlen, rief er seine Leser dazu auf, dem Deutschen Reich die Treue zu halten, obwohl eine so unvernünftige Partei wie die NSDAP auf dem Vormarsch sei.
Offensichtlich vertrug sich Naumanns bildungsbürgerliches Selbstverständnis eher schlecht mit einer Partei, die Straßenkampf und physische Gewalt zu ihren bevorzugten politischen Mitteln zählte. Gleichzeitig beschuldigte er allerdings weiterhin den CV und die Zionisten, denn diese seien ausschließlich am Wohlbefinden der Juden interessiert, anstatt deutsche Gesamtinteressen im Auge zu behalten.
Die gemeinsame Berufung auf vermeintliche deutsche Gesamtinteressen und die zunehmenden Erfolge Hitlers brachten Naumann schließlich zum Umdenken. Im August 1932 ging er so weit, dem „Führer“ der NSDAP für dessen angebliche Verdienste um die Stärkung des deutschen Nationalgefühls zu danken. Keiner anderen politischen Bewegung in Deutschland sei jemals etwas Vergleichbares gelungen. In der Tat übte die NSDAP eine Anziehungskraft auf breite Bevölkerungsschichten aus, mit der die bildungsbürgerlich geprägten nationalen Verbände niemals mithalten konnten. Dass Hitlers Variante des Nationalismus auch inhaltlich deutlich radikaler und antisemitischer angelegt war, als der alltägliche Nationalismus, den es bisher in der Bevölkerung sehr wohl gegeben hatte, ignorierte Naumann dabei allerdings.
Als Hitler tatsächlich zum Reichskanzler aufgestiegen war, war antisemitische Gewalt rasch an der Tagesordnung. Naumann schien sich verschätzt zu haben. Hinter den Kulissen ergriff er allerdings gewisse NS-kritische Maßnahmen. Ende März 1933 beschwerte er sich bei Hermann Göring, dem Reichskommissar für Preußen, über die körperlichen Gewalttätigkeiten. Sechs Tage danach versuchte er außerdem beim Reichspräsidenten Hindenburg vorzusprechen, um sich für die Bürgerrechte der ehemaligen jüdischen Soldaten stark zu machen. Offenbar verspürte er einen derart dringenden persönlichen Handlungsbedarf, dass er sogar wieder bis zur Auflösung des VnJ den Verbandsvorsitz übernahm.
Nichtsdestotrotz beharrte er vehement auf einer notwendigen Verhaltensänderung der deutschen Juden. Im Mai 1933 stellte er die nationalsozialistische Machtübernahme als notwendige Wiederentdeckung des deutschen Nationalgedankens mit kleineren gewaltbedingten Schönheitsfehlern dar. Selbstverständlich hätten sich die Funktionäre des CV bereits aufgrund ihrer angeblichen Feigheit ins Ausland abgesetzt. Der Verlust eines Amtes oder der Boykott seines Geschäfts dürfe jedoch keinen wahrhaft deutschen Juden von seinem Patriotismus abbringen. Naumanns Ziel war hierbei klar: Er forderte eine Rückbesinnung auf die vermeintliche alte Kameradschaft aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Dadurch barg die Herrschaft der antisemitischen NSDAP für Naumann einen Hoffnungsschimmer: die Aussicht auf eine Erneuerung der deutschen Machtstellung in der Welt – möglicherweise sogar durch einen neuen Krieg.
Wir vertrauen darauf, daß der Tag der deutschen Selbstbesinnung nicht mehr ganz fern ist, der Tag, an dem der „arische“ Deutsche dem Deutschen aus jüdischem Stamme wieder die Hand reichen wird, wohl vorerst noch zögernd und mißtrauisch, aber doch schon bereit, auch hier die Bewährung gelten zu lassen. Der Tag, an dem die alte Kameradschaft des Schlachtfeldes und des Schützengrabens wieder lebendig werden wird, zumal des Schützengrabens, in dem es nicht auf den Tapferkeitsrausch des Augenblicks ankam, sondern auf das zähe, gelassene, ziel- und verantwortungsbewußte Kopfhinhalten.
Max Naumann: Vom Tag des Zorns zur deutschen Zukunft. In: Der nationaldeutsche Jude, 13. Jg. (Mai 1933) Sondernr. S. 2.
Für Naumann zerschlugen sich derartige Hoffnungen schnell. Am 18. November 1935 löste Reinhard Heydrich als Oberbefehlshaber der Polizei den VnJ auf. Naumann geriet daraufhin in die Gefangenschaft der Gestapo und unternahm einen Suizidversuch mithilfe von Brillengläsern. Am 14. Dezember wurde er jedoch bereits aus der Haft entlassen. Als Rechtsanwalt durfte er allerdings nicht länger arbeiten, sodass die Finanzierung seines Lebensunterhalts, wie für die meisten Juden im Dritten Reich, sehr schwierig wurde. Als er zähneknirschend darüber nachdachte, nach Großbritannien zu flüchten, das ihm eigentlich wegen seiner persönlichen Kriegserlebnisse und seiner Feindschaft zum Zionismus verhasst war, litt er bereits an Krebs. Am 18. Mai 1939 erlag er schließlich seiner Krankheit, sodass er seine Auswanderungspläne nicht mehr umsetzen konnte. Der deutsche Revanchekrieg, mit dem er sympathisiert hatte, begann zwar vier Monate später tatsächlich. Zur erhofften Wiederherstellung der deutschen Weltmachtposition kam es allerdings nicht, sondern zu einer noch größeren Niederlage und einem unvorstellbaren Völkermord an unzähligen deutschen und nichtdeutschen Juden in Europa.
Max Naumann – Fazit
Was war Naumann nun? Ein jüdischer Antisemit? Ein jüdischer Faschist? Oder einfach ein Mitläufer, der die Propaganda des völkischen Nationalismus unhinterfragt übernahm? All dies greift zu kurz. Indem Naumann den Dienst am Deutschen Reich zur einzig relevanten Aufgabe eines deutschen Juden erhob, verschärfte er jedoch zweifellos den Konflikt innerhalb des deutschjüdischen Milieus. Mit der Existenz unterschiedlicher Strömungen innerhalb des deutschen Judentums konnte er sich niemals abfinden. Dabei attackierte er mit seinen Schriften und Äußerungen regelmäßig andere jüdische Verbände und versuchte, deren Mitglieder für seine eigene Sache zu gewinnen. Ausschließlich den VnJ hielt er für den berufenen Vertreter des einzig wahren deutschen Judentums. Zu einer friedlichen Koexistenz mit dem Zionismus kam es nicht, denn Naumanns Misstrauen gegenüber dem jüdischen Nationalismus wurde durch dessen Verbindungen zum alten Kriegsgegner Großbritannien noch weiter befördert.
Kriegsbezogene Begriffe wie „Heer“, „Kampf“ und „Truppe“ zogen sich wie ein roter Faden durch Naumanns Veröffentlichungen. Offensichtlich stellte die Friedenszeit nach 1918 für ihn keine Friedenszeit im strengen Sinne dar. Stattdessen zog er es vor, sich eine Art Ersatzschlachtfeld zu suchen, das er in seinem politischen Engagement fand. Damit war seine Haltung keineswegs außergewöhnlich, denn auch viele andere Bewohner der Weimarer Republik betrachteten Politik weiterhin als Kampf. Mit ebenso vielen Zeitgenossen teilte Naumann die diffuse Sehnsucht nach einem „Führergeist“, einer „Führergruppe“ oder einfach einem „Führer“, ohne dass dies unbedingt genauer definiert war oder sich gar explizit auf den „Führer“ der Nationalsozialisten bezog. Trotz dieses Wortschatzes wies er den Vorwurf des Antisemitismus weit von sich und hatte für die erklärten völkischen Nationalisten seiner Zeit kaum Sympathien übrig. Ein enthusiastischer Vertreter einer großen Meinungsvielfalt war er zwar nicht, ein erklärter Antidemokrat aber auch nicht. Auch biologische Rassenkriterien spielten zumindest für sein Bild von der Rolle des Judentums im Reich keine große Rolle. Nationalismus war für ihn in erster Linie ein Gefühl, das er wie viele andere jüdische Mitbürger seiner Zeit vor allem an Kriterien wie Bildung, Kultur und Sprache festmachte.
Letzten Endes war Naumanns kulturelle und gefühlsbetonte, aber zugleich radikale Variante des Nationalismus in dieser Form einzigartig. Optimale Verbündete gab es für ihn nie, nach 1930 nahmen seine Möglichkeiten noch weiter ab. So führten ihn seine Sehnsucht nach militärischen Werten und einem starken Gemeinschaftsgefühl immer näher an die NSDAP heran. Obwohl dies keineswegs seine bevorzugte Option war, wurde er nun doch immer unkritischer gegenüber den Worten und Taten der Nationalsozialisten und unterschätzte das Gefahrenpotenzial, das von ihnen ausging, maßlos. Genau dieser Mangel an Vorsicht wurde ihm zum Verhängnis. Sein Konzept eines homogenen deutschen Volks und eines ebenso homogenen jüdischen Nationalstaats in Palästina erscheint allerdings bemerkenswert aktuell. Denn die Sehnsucht nach hermetisch abgegrenzten Kulturräumen erhält angesichts einer immer rascheren Globalisierung auf rechter Seite erneut Auftrieb, ebenso wie das tiefe Misstrauen gegenüber internationaler Zusammenarbeit. Und auch die Frage, wo legitime Kritik am Staat Israel endet und ab welchem Punkt Antizionismus in Antisemitismus umschlägt, ist unverändert Bestandteil hitziger Debatten auf rechter wie auf linker Seite — bis heute.
Niels Tim Dickhaut studierte Geschichte und Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 2021 ist er dort in der Lehre tätig und arbeitet an seiner Promotion. Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich der Nationalismusforschung, der politischen Ideengeschichte und der Pressegeschichte.
Literatur und Auswahlbibliographie
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- Dickhaut, Niels Tim: „Nicht eine Handvoll Ueberläufer, sondern ein Heer.“ Zum politischen Weltbild des nationaldeutschen Juden Max Naumann (1875-1939). In: Meis, Daniel (Hrsg.): Die Heterogenität des Judentums in der Weimarer Republik (1918/1919-1933). Biographische Zugänge, Berlin 2022, S. 83-102.
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- Hambrock, Matthias: Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921-1935, Köln/Weimar/Wien 2003.
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- Menges, Franz: Naumann, Max. In: Neue Deutsche Biographie 18/1997, S. 772f.
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- Nonn, Christoph: Antisemitismus, Darmstadt 2008.
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- Rheins, Carl J.: The Verband nationaldeutscher Juden 1921-1933. In: Leo Baeck Institute Yearbook, 25/1980, Nr. 1, S. 243-268.
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