Mit dem Mittelmeer in Sichtweite stößt man als Historiker auf verblüffende Parallelen antiker und aktueller Kriege, wenn man einige Grundmuster studiert und vergleicht. Das Mittelmeer in der Antike ist mehrfach das Szenarium für große Kriege gewesen. Wenn man die Geschichtsbücher liest, kann man sich streckenweise nicht enthalten, die heutige kriegerische Gegenwart mitzulesen. Ich greife als besonders anschauliche und „lehrreiche“ Beispiele den Peloponnesischen Krieg (431-404 v.C.) der Griechen im Ostmittelmeer und die Punischen Kriege Roms (264-146 v. C.) und Karthagos im Westen heraus. Man mag einwenden, die alte Geschichte interessiert nicht mehr. Aber doch! Man kann beobachten, wie die Aktionen und Reaktionen wie in einem Reißverschluss ineinander greifen in Erwartung des jeweils nächsten verhängnisvollen Schrittes. Am Schluß steht mit Sicherheit die Katastrophe. Ein Gastbeitrag von Wolfram Lietz, 2024
Ist das menschliche Handeln im kriegerischen Konflikt, auch unseres, unabänderlich so geartet, wie es schon der antike Geschichtsschreiber Thukydides anschaulich beschrieben hat? Wenn auch die politischen Erscheinungsbilder ganz unterschiedlich sind, so ist doch eine Reihe von Betrachtungsansätzen vergleichbar. Thukydides unterschied (als Historiker erstmalig) zwischen langfristigen Ursachen und kurzfristigen Anlässen von Kriegen. Des Weiteren kann man beobachten, wie aus ähnlichen und vergleichbaren Interessenlagen heraus die Konflikte entstanden sind, dass sie oftmals eine lange Vorgeschichte hatten aus Erfahrungen von Niederlagen, Demütigungen, Verlusten, die zu Revision und Revanche stimuluiert hatten, wie die Konflikte sich hochschaukelten, wie sie ideologisch verbrämt wurden, wie Möglichkeiten, sie durch Verträge langfristig friedlich beizulegen, zuletzt doch vertan wurden, wie Absprachen unter Vorwänden und betrügerisch umgangen wurden und gescheitert sind, wie „rote Linien“ (wie man es heute nennt) anscheinend zur Übertretung reizten, welche entfesselnde Rolle „Kipp-Punkte“ gespielt haben, wie und mit welchen Argumenten Entscheidungseliten und einzelne Autoritäten sich durchgesetzt haben. Am Schluss dieser „Kriegserzählungen“ kann man die Unfähigkeit der Protagonisten zum Frieden studieren und zwei desaströse Varianten von Kriegsausgängen. Zu allen diesen Punkten gibt die Geschichte viel her in dem Sinne, dass sie auch uns heute betroffen machen.
Der Peloponnesische Krieg
Betrachten wir zunächst den Peloponnesischen Krieg: diesen hat Thukydides (ca. 454 – 399 v.C., attischer Stratege (General), Historiker u. Zeitgenosse) dargestellt mit dem Anspruch neutraler Wahrheitssuche und der Absicht, einen Wissensbesitz für immer zu hinterlassen und dem kritischen Nachdenken der Nachwelt zu unterbreiten. In dem verheerenden griechischen Konflikt standen sich zwei Machtblöcke gegenüber, der Attische Seebund unter Athen und der von Sparta gelenkte Peloponnesische Bund. Sie konkurrierten territorial und waffentechnisch als Seemacht und Landmacht, im Handel und als Gesellschaftssysteme (Demokratie versus Oligarchie). Zur Vorgeschichte des Krieges gehörten wiederholte Konfrontationen, beendet mit einer Invasion Spartas auf dem Peloponnes (447/6 v. C.) und der Vereinbarung eines 30-jährigen Friedens. Damit war ein neuer Konflikt nur aufgeschoben, aber es war eine vertragliche Bremse auferlegt. Athen war in diesem Moment eigentlich der Verlierer von Territorium auf dem Festland, aber zur Zurückhaltung an den Meeresküsten nicht verpflichtet. Am Anfang des folgenden großen Krieges standen auf der einen Seite die Befürchtung der unterlegenen Athener, noch mehr Macht einzubüßen, und auf der anderen Seite die Alarmbereitschaft und Sicherheitsdoktrin Spartas, und auf beiden Seiten die entsprechende Aufrüstung. Beliebige kurzfristige Anlässe konnten jederzeit auftauchen und auch ganz weitab liegen.
In dem kleinen Städtchen Epidamnos an der Küste im Norden Illyriens (heute Albanien) brach 433 v. C. ein Dissidentenaufstand aus, einige ins Exil gegangene Adlige verbündeten sich mit dem Volk. Epidamnos rief seine neutrale Mutterstadt Korfu um Hilfe, damit begann eine Kettenreaktion von Hilferufen, durch welche auch Korinth als Partner des Peloponnesischen Bundes einbezogen wurde und im Gegenzug der Attische Seebund. Damit wären die Bündnissysteme schon direkt „im Spiel“ gewesen. Aber Athen reagierte vorsichtig wegen des 30-jährigen Friedensvertrages und bot Korfu „nur“ ein „Defensivbündnis“ an. Die Korinther zogen sich zurück. Im Grunde lag der Krieg schon in der Luft.
Hinzu kam ein neuer Konflikt Athens mit einer anderen weit abgelegenen Hafenstadt auf der Halbinsel Chalkídiki, Potidea, das im spartanischen Lager und zugleich korinthische Stadtgründung (Kolonie) war. Athen forderte aus Sicherheitsgründen Potidea auf, korinthische Funktionäre auszuweisen. Potidea erhob sich (432 v. C.). Athen entsandte Schiffe ebenso wie die Mutterstadt Korinth, letztere aber mit Rücksicht auf den 30-jährigen Friedensvertrag keine regulären Truppen, sondern nur „Freiwillige“. Damit war der Kriegsfall leicht kaschiert schon eingetreten. Athen blieb Sieger in dem Scharmützel und es begannen in Sparta und Athen die großen Debatten zwischen Kriegstreibern und Beschwichtigern. Die Volksversammlung in Sparta beschloss einzuschreiten. Es kamen in den nächsten Monaten neue Beschwerden und propagandistische Anfeindungen auf den Tisch. Beide Seiten konnten Rechtfertigungsgründe aufweisen. Es ging nur noch darum, wer dem Gegner den Bruch des Friedensvertrages am überzeugendsten vorhalten konnte. Im Sommer 431 begann Athen mit der Invasion auf dem Peloponnes. Der 30-jährige Frieden hatte nur 14 Jahre gewährt und machte einem fast 30-jährigen Krieg Platz.
Ausgelöst durch eher unbedeutende und periphäre Konfliktherde, griff der große Krieg wie zwanghaft um sich. Es ist ein Witz der Geschichte, dass Epidamnos in den Annalen des Krieges und der antiken Geschichte danach nicht mehr vorkommt. Aber wir wissen viel über die großen Helden wie Perikles, auch über Verräter wie Alkibiades, die katastrophale Expedition Athens nach Sizilien, die Seuche in dem überbevölkerten Athen, lokale Massaker, den Verrat Spartas, das zuletzt die persische Großmacht (einst gemeinsamer Gegner) zu Hilfe und nach Griechenland rief.
In Griechenland lässt uns Thukydides in fiktiver Form an den Entscheidungsvorgängen auf beiden Seiten teilnehmen. Auf den Ratsversammlungen der verschiedenen Städte gab es echte Debatten, auch die Bedenken der Besonnenen kamen zur Geltung. Die charismatischsten Redner konnten sich durchsetzen, teils mit abenteuerlichen Plänen und Erfolgsversprechen. Am eindrucksvollsten schildert Thukydides den Konflikt um die Insel Melos. Die Athener und Verbündeten wollten diese kleine neutrale Insel der Kykladen zum Beitritt zum Attischen Bund zwingen. Anders als wohl von den Athenern beabsichtigt und für günstig gehalten, gelangten sie mit ihrer Botschaft nicht vor die Volksversammlung der Melier, sondern nur vor den Rat der Adligen. Diese diskutierten die Chancen wohlwollender Neutralität, entschlossenen Widerstands oder der Unterwerfung.
Denn unterwürfen sich die Melier, könnten die Athener ihre Streitmacht schonen; die Melier aber blieben dann am Leben und behielten als Untertanen ihr Land.
Nach der Beratung erklärten aber die melischen Oligarchen in einer kurzen Wiederaufnahme des Dialogs, dass sie ihre seit 700 Jahren bestehende Freiheit nicht aufgeben, sondern sich dem Beistand der Götter und der Spartaner anvertrauen und einer Unterwerfung widersetzen wollten.
Darauf erfolgte eine Belagerung der Stadt und folgend die sprichwörtlich gewordene Hungerkatastrophe („melischer Hunger“). Am Schluss richteten die Athener alle erwachsenen Melier hin, soweit sie in ihre Hand fielen, die Frauen und Kinder verkauften sie in die Sklaverei. Damit war in Melos die oligarchische Herrschafts- und Verteidigungsdoktrin gescheitert und seitens Athens die Macht des Stärkeren brutal durchgesetzt.
Die Punischen Kriege
In den Punischen Kriegen begegnet uns eine ähnliche Konfliktlage. Zwei aufsteigende Machtzentren, Karthago und Rom, konkurrierten schon lange um Macht- und Handelszentren rund um das Mittelmeer. Karthago begann mit frühen Erkundungsfahrten entlang der afrikanischen Küste; betrieb anfänglich eine Vertragspolitik mit Rom, Handelsabkommen und defensive Interessenabgrenzung, später Einmischung in die territorialen Konflikte in Sizilien unter griechischen Herrschern. Im Jahre 264 v. C. zu Beginn des Krieges mit Rom um Sizilien erfolgte ein Vertragsbruch der Römer durch Unterstützung der eigentlich unbedeutenden Mamertiner, begründet durch vorgebliche „Einkreisungsängste“ Roms. Dieses eroberte ganz Sizilien, und Karthago unterlag, eine Demütigung.
Krieg bedeutete „Beute für Volk und Staatskasse, Karrierebausteine für den senatorischen Adel, Stärkung von Identität und Selbstbewusstsein, Respekt bei den alten und Zuwachs an neuen Bundesgenossen, eine Steigerung der Ressourcen und eine günstige Ausgangsposition für den nächsten Krieg“ (Zimmermann, S. 56). Karthago seinerseits griff als imperialistische Macht ebenso wie Rom auf die iberische Halbinsel über, die beiden nicht gehörte. Der Ebrovertrag von 226/25 v. C. legte fest, dass Karthago den Ebro nicht überschreiten dürfe, die „rote Linie“, worin aber vom übrigen Iberien kein Wort stand. Von den Karthagern verstanden als Interessenabgrenzung, unterwarfen sie iberische Städte in ihrem südlichen Bereich, bis das iberische Sagunt südlich des Ebro Rom um Hilfe rief. Sagunt war nicht römischer Bundesgenosse, die Behauptung, es stehe unter römischem Schutz, war ein Vorwand. Rom sah eine gute Gelegenheit zur Intervention südlich des Ebro, hat aber nichts für Sagunt getan, sondern acht Monate lang abgewartet, bis es von Hannibal erobert und zerstört war (219 v. C.). Sagunt war ein Mittel zum Zweck eines römischen Ultimatums und der römischen Kriegserklärung. Der Volksversammlung war dies als „gerechter Krieg“ zu vermitteln.
Für Karthago war das ein Bruch des Ebro-Vertrages. Karthago konnte sich nicht erlauben, in seinem Einflussbereich nachzugeben und sah sich nach Roms Kriegserklärung aus strategischen Gründen gezwungen, rasch den Römern zuvorzukommen. Deshalb der sofortige Marsch von Hispanien nach Italien. Hannibal war ein Exponent eines großen Teils des auf Gewinn erpichten karthagischen Senats und der öffentlichen Meinung in Karthago, gleichwohl nicht unumstritten. Er war erzogen in Hass auf Rom, den er zugleich förderte. Es folgte die berühmte Alpenüberquerung mit Elefanten und das schockierende „Hannibal ante portas“ vor Rom. Hannibal hat sich letztlich verkalkuliert. Aber sein Einmarsch in Italien hat Panik in Rom ausgelöst. Diese hat sich als immer wieder stimulierte Paranoia gegenüber Karthago bis in die nächste Generation erhalten. Noch über 50 Jahre dauerte die Konfrontation Roms mit Karthago. Bekanntlich vermochte der konservative alte Cato durch die beharrliche Forderung nach der Zerstörung Karthagos noch im Jahre 149 v. C. die Römer zur Wiederaufnahme des Krieges zu bewegen („Ceterum censeo Cartaginem esse delendam“). Es gab keinen plausiblen Grund zu dieser Maßnahme. Vielmehr handelte es sich um „Misstrauen und Hypersensitivität Roms gegenüber leisesten Anzeichen des Widerstandes“ gegen die errungene Vormachtstellung (Zimmermann, S. 152). Sie endete mit dem „Urbicid“ Karthagos.
Was können wir aus diesen Kriegen lernen?
Mit Blick auf diese beiden Kriege lässt sich fragen, was diese erbracht haben und ob sie sich gelohnt haben. Was Griechenland anbetrifft, führte das Ende des Krieges zum Ruin Athens und zum Ende der Demokratie und zur Hegemonie Spartas. Die Siegermacht setzte überall oligarchische Regimes ein und ließ diese kontrollieren. Aber es kam in Folge zu einer Serie von unaufhörlichen neuen Kriegen zwischen den griechischen Städten, und der eigentliche Gewinner war die Großmacht Persien, die Sparta durch Goldzufluss dominierte und damit eine Hegemonie über Griechenland etablierte. Das Kriegsende auf dem römisch-karthagischen Schlachtfeld dagegen war definitiv und nachhaltig. Es war logisch, dass der Krieg erst zu Ende war, wenn die Ursache entfiel. Der Preis war die völlige Auslöschung der Zivilisation Karthagos und der Lohn war die freie Bahn für den schrankenlosen römischen Imperialismus um das Mittelmeer herum und weiter darüber hinaus.
Diese Konfliktlösungen konnten nicht als gerecht betrachtet werden und boten Spielraum für nachfolgende Konfrontationen. Die Frage stellt sich auch – heute umso mehr – nach dem „irr- sinnigen“ Aufwand an Waffen und Massen von Menschen, die geopfert wurden.
Rückblickend auf die weit zurück liegenden historischen Konfrontationen könnte man fragen, ob man hier etwas lernen könnte. Aber es ist ja so, dass Geschichte sich nicht wiederholt und dass wir als Zeitgenossen unserer eigenen konfliktiven Geschichte als erlebende und agierende Menschen selbst mitten im reißenden Strom mitschwimmen und nicht am beschaulichen Ufer stehen können. Die aktuellen Konflikte haben andere Namen, wie NATO und Putin, Ukraine, Krim und Donbas, Palästina, Nakba, Hamas, Westjordanland. Auch uns sind die Probleme, vor welche wir gestellt worden sind, in einer oft langen Ursachen- und Wirkungskette von ganz anderen Akteuren eingebrockt worden. Wir sind dazu verdammt, damit klug umzugehen. Die Verantwortlichen neigen dazu, mit dem Blick nach rückwärts dort aufzuhören, wo die Mitschuld der eigenen Seite aufschimmert, und in Richtung Zukunft unrealistische Maximalziele anzustreben. Es kann nur immer bestmögliche, mit dem Gegner ausgehandelte Lösungen geben, deren Folgen vorausschauend bedacht sein müssen. Das ist es wohl, was Thukydides schon gemeint hat und was wir auch aus modernen Geschichtsdarstellungen lernen können. Auch über uns als Protagonisten werden dereinst Historiker urteilen. Wie werden wir dann dastehen?
Copyright: Wolfram Lietz, Banyoles, Juli 2024. Alle Rechte vorbehalten!
In unregelmäßigen Abständen veröffentlichen Gastautoren Beiträge auf Geschichte-Lernen.net