Spiegel-Affäre 1962 – Ein Polikskandal verändert Deutschlands Zivilgesellschaft

Aber meine Herren, es kann mich doch niemand daran hindern, jeden Tag klüger zu werden

Konrad Adenauer.

1962 hielt die sogenannte „Spiegel-Affäre” Deutschlands kritische Öffentlichkeit für Wochen in Atem und überlagerte teilweise sogar das Interesse an der Kuba-Krise und die Angst vor der atomaren Vernichtung der Erde. Die Affäre kann als Zäsur in der politischen Geschichte der Bundesrepublik bezeichnet und als deutliches Indiz für ein verändertes Verhältnis der Öffentlichkeit zur Demokratie gewertet werden. Denn fortan beschränkte man sich nicht mehr auf die reine Repräsentation durch Politiker. Eine selbstbewusste, weniger obrigkeitshörige und kritische Zivilgesellschaft entstand. Doch wie war es dazu gekommen? Lesen Sie auf Geschichte-Lernen.net einen ausführlichen Beitrag über die Vorgänge, Vorgeschichte und Hintergründe der Spiegel-Affäre, die in einer Rücktrittswelle von Politikern endete und einem prominenten, schillernden und aufstrebenden Mitglied von Adenauers Kabinett seinen Ministerposten kostete.

Vorgeschichte: „Flexible Response“ & Verteidigungsminister Strauß

Die direkte Vorgeschichte der Spiegel Affäre beginnt Anfang 1962, als in der neuen US-Administration unter Präsident John F. Kennedy ein maßgeblicher Umdenkprozess in Sachen „taktischer Einsatz von Atomwaffen“ einsetzt. Der Präsident baute – unter maßgeblichem Einfluss von General und Militärberater Maxwell D. Taylor und anderen einflussreichen Politikern und Militärs –  stärker auf das neue Konzept des „flexible response“ in der nuklearen Konfrontation mit der Sowjetunion. Im Konfliktfall sollte dabei der Einsatz von Atomwaffen möglichst lange hinausgezögert werden, um Zeit für diplomatische Lösungen zu gewinnen. Demgegenüber vertrat Franz Josef Strauß, seit 1956 Verteidigungsminister im Kabinett von Konrad Adenauer, weiter einen radikalen Konfrontationskurs und befürwortete weiter das Konzept der sog. „preemptive strikes“, also den vorbeugenden, präemptiven Einsatz von Atomwaffen im Falle eindeutiger sowjetischer Angriffsabsichten. nach oben ↑

„Bedingt abwehrbereit“ – Ein Zeitungsartikel löst polizeiliche Ermittlungen und eine Staatskrise

Unter anderem wegen Meinungsverschiedenheiten in der Frage der atomaren Abwehrstrategie (aber keinesfalls ausschließlich deswegen), herrschte seit Anfang der 60er Jahre „Krieg“ zwischen der Chefredaktion des damals linksliberalen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ und dem CSU-Politiker Franz Josef Strauß. So war der Spiegel in unterschiedlichen, mehrseitigen Artikeln in mehreren aufeinander folgenden Ausgaben verschiedenen Affären, Skandalen und Skandälchen des Verteidigungsministers nachgegangen. Im Rahmen dieser publizistischen Offensive gegen den Verteidigungsminister erschien im Oktober 1962 der Artikel „Bedingt abwehrbereit“. In diesem Beitrag kamen die Spiegel-Macher zum Schluss, dass die Bundeswehr nur bedingt in der Läge wäre, einen Angriff kommunistischer Truppen mit konventionellen Waffen abzuwehren. Als Grund identifizierte der Spiegel die Vernachlässigung der konventionellen Bewaffnung der Bundeswehr aufgrund Strauß‘ überzogenen nuklearen Aufrüstungswünschen. Dabei griff der Spiegel auf geheime Dokumente zurück, dem Blatt zugespielt von einem weiteren Intim-Feind Strauß‘, Ex-Verteidigungsminister Theodor Blank. Blank hatte unter maßgeblichem Einfluss von F. J. Strauß seinen Posten von Konrad Adenauer entzogen bekommen.

Am 26. Oktober durchsuchte die Polizei im Auftrag des Bundesanwalts die Spiegel-Redaktionsräume und beschlagnahmte umfangreiches Material. Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein wurde wegen des Vorwurfs des „Landes- und Geheimnisverrats“ festgenommen. Darüber hinaus wurde der Verfasser des Artikels, C. Ahlers, ohne rechtliche Grundlage während seines Urlaubs in Spanien verhaftet. Später konnten Recherchen der Staatsorgane und engagierter Journalisten F. J. Strauß als Hintermann und Initiator dieser Vorgänge identifizieren. Anfangs leugnete Strauß jede persönliche Beteiligung, zunächst auch die des Verteidigungsministeriums. nach oben ↑

Die Reaktion der Öffentlichkeit – Als die Spiegel Affäre zum Politthriller wurde

In der Öffentlichkeit, bei Opposition und FDP sorgte die Polizeiaktion gegen den Spiegel für einen wahren „Sturm der Entrüstung“ (Chronologie der Proteste). Die Oppositionsparteien reagierten mit parlamentarischen Anfragen im Bundestag und pochten wiederholt auf Aufklärung der Vorgänge. Die kritische Öffentlichkeit machte ihrem Ärger mit spontanen Protesten und Demonstrationen auf der Straße Luft. Auch gaben viele Professoren, Künstler, Schriftsteller, Kirchenvertreter, Studenten und vor allem Journalisten und Publizisten Erklärungen ab. Diese erreichten auf ganz verschiedenen Kanälen die Politik. Sogar die in ihren politischen Meinungen sonst so heterogene „Gruppe 47“ verfasste ein Protestschreiben, das fast 50 Mitglieder der Gruppe unterzeichneten. Erstmals traf die Warnung der linken Intellektuellen vor einem autoritären, faschistoiden Staat auf breiteres Gehör in der Öffentlichkeit. Die öffentlichen Proteste und Diskussionen hielten mehrere Monate an. Auf der anderen Seite verliefen die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft letztendlich im Sande. In keinem Fall kam es zu einer Verurteilung eines Beteiligten.

Franz-Josef-Strauß
Vertreidigungsminister Franz Josef Strauß 1959 und danach kein Freund des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ | Foto: Bundesarchiv Bild 183-64381-0016 (bearbeitet), Lizenz: CC-BY-SA-3.0-de

Letztendlich sorgte die Affäre so dafür, dass im politischen Bereich einige führende Köpfe rollten. Franz Josef Strauß musste Mitte November als Verteidigungsminister zurücktreten, nachdem seine persönliche Beteiligung erwiesen und er der Lüge überführt worden war. Dabei erzwang aber erst der Rücktritt von fünf FDP-Ministern den Sturz des Verteidigungsministers. Auch auf höchster politischer Ebene führte die Affäre mittelfristig zu Veränderungen. Bundeskanzler Konrad Adenauer erklärte im Zuge der Affäre seinen Rücktritt zum Ende der parlamentarischen Sommerpause. Adenauer hatte sich zur repressiven Vorgehensweise der Staatsorgane bekannt, das Vorgehen Strauß autorisiert und das Verhalten des Spiegels als einen „Abgrund an Landesverrat“ bezeichnet. Adenauer stand mit seinem autoritären Führungsstil und seinem Desinteresse für die öffentliche Meinung außerhalb von Wahlkämpfen für die politische Kultur aus der Zeit vor der Spiegel-Affäre.

Wie eingangs angemerkt, war es während der Spiegel-Affäre zum ersten Mal in der Geschichte der jungen Bundesrepublik zu einem breiten Aufbegehren der Zivilgesellschaft und einer radikalen Polarisierung zwischen konservativen und liberalen Kräften gekommen, die in schärfster Form in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde, auch wenn Vorläufer in der „Ohne mich“-Bewegung und im Widerstand gegen eine deutsche Wiederbewaffnung zu finden sind. Die damaligen Protestwellen erreichten aber weder die Ausmaße des Spiegel-Protests, noch wurde die Öffentlichkeit auf einer derart breiten Basis politisiert.

Artikel erstmals veröffentlicht am 13. November 2013