»Mehr Menschen als das Schwert tötet der Fraß.«
Griechische Lebensweißheit des antiken Arztes Galenus mit Vorbildfunktion für Lebensreformer des 19. Jahrhunderts
Die Jahrhundertwende um 1900 markierte in Deutschland den entscheidenden Start-Zeitpunkt in die Moderne. Der bahnbrechende technische Fortschritt bedeutete für das Alltagsleben große Erleichterungen. Bisher tödliche Krankheiten konnten geheilt werden und die Wirtschaft florierte. Andererseits sorgten die immense Beschleunigung des täglichen Lebens und neue wissenschaftliche Erkenntnisse aber auch für die Auflösung traditioneller Weltbilder – für viele Menschen ein Wegfall von geistiger Sicherheit. Ein breites Spektrum an Gegenbewegungen entstand. Unter anderem die Lebensreformbewegung, die den „Schattenseiten der Moderne“ eine ganzheitliche Reform des Lebensstils entgegensetzte.
Den gesellschaftlich-kulturellen Hintergrund für die Entstehung der sogenannten „Lebensreformbewegung“ bildete das „facettenreiche sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Klima“ [Reulecke; S. 12] des sogenannten „Fin de Siècle“ seit den 1880er Jahren – der entscheidenden Startzeitpunkt in die industrielle Gesellschaft der Moderne. Der technische Fortschritt dieser Zeit, der ruhigen Gewissens als bahnbrechend bezeichnet werden kann, ließ ein kräftiges wirtschaftliches Wachstum beginnen, das bis zum 1. Weltkrieg anhielt.
Der technische Fortschritt: Mit Volldampf in die Moderne
Die Dampfmaschine und die damit betriebenen modernen Transportmittel sorgten für eine immense Beschleunigung des täglichen Lebens. Lebensmittel waren seit der Einführung neuer chemischer Düngemittel keine Mangelware mehr. Die Erfindung der Elektrizität führte zunächst zur Entwicklung der Telegrafie und schließlich zu Licht und Elektromotoren. Deutschland verwandelte sich in wenigen Jahrzehnten vom rückständigen Agrarland zur modernen Industriegesellschaft. 1913 arbeiteten schon fast 38% der Bevölkerung in der Industrie. Immer mehr Menschen wanderten deswegen in die Städte, bereits 1907 lebte fast die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr an ihrem Geburtsort.
Diese Entwicklungen hatten einerseits viele gute Seiten und Konsequenzen: So war der materielle Lebensstandard stark gestiegen, früher unheilbare Krankheiten konnten nun bekämpft werden und die Möglichkeiten des Menschen, sein Leben nach individuellen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten, hatte sich vergrößert. Dies führte vor allem im 19. Jahrhundert zu einem vielfach verbreiteten Fortschrittsoptimismus und einem starken Glaube an die Segnungen der modernen Technik.
Sinnkrise – Die Kehrseite der Moderne
Die fortgesetzte Steigerung des technischen Fortschritts hatte allerdings nicht nur positive Konsequenzen für das Leben der Menschen: So ließ die fortschreitende Erfassung der Natur mithilfe moderner naturwissenschaftlicher Methoden die Welt und ihre Natur dem modernen Menschen nun oft als nüchtern und kalt erscheinen. Der Anstieg der Mobilität und die vielfältigen Möglichkeiten der modernen Kommunikation führten zu einem beschleunigten historischen Wandel und zur Auflösung und Relativierung traditioneller Weltbilder, Sichtweisen und Überzeugungen.
Das wurde von vielen Menschen nicht nur als Befreiung, sondern auch als Wegfall geistiger Sicherheit begriffen. Der zunehmende Prozess der Spezialisierung, die Mathematisierung und die Verwissenschaftlichung der Welt, verstärkten das Gefühl der Unsicherheit noch weiter. Zusätzlich erschienen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die den Menschen nun umgaben, zunehmend als von fremden und unverständlichen Mächten in anonymen Entscheidungsprozessen gelenkt, auch wenn diese Mächte immer noch von Menschen ausgingen.
Reform und Reaktion: Gegenbewegungen zur modernen Welt
So breitete sich zur Jahrhundertwende hin, nachdem im 19. Jahrhundert ein nahezu ungebrochener Fortschrittsoptimismus geherrscht hatte, eine immer stärker werdende Krisenstimmung aus. Diese veränderte Stimmungslage wurde vor allem in der intellektuellen Elite des Bildungsbürgertums virulent, das durch seinen Bedeutungsverlust aufgrund des Aufstiegs des Industrie-Großbürgertums in eine Identitäts- und Sinnkrise stürzte. Nun sahen viele Zeitgenossen auch die Verluste und die neuen Bedrohungen als Kehrseite des rasanten Fortschritts. Aus der allgemeinen Krisenstimmung entwickelte sich ein breites Spektrum an – im gewissen Sinne antimodernen – Gegenbewegungen, deren Wirkung bis in die 1930er Jahre reichte. Dabei entstand eine konservativ bis reaktionäre Richtung, welche die Rückkehr zur „guten alten Zeit“ forderte (die Richtung des Fortschrittspessimismus, auf welcher der Nationalsozialismus zum Teil aufbaute). Auf der anderen Seite wollte eine revolutionäre Richtung die bestehende Ordnung auf radikale Weise umstürzen, die bestehende Ordnung aufheben, baute auf einen grundlegenden Neuanfang und gesellschaftlichen Utopien. In der Mitte dieses Reformspektrums war die Lebensreform angesiedelt. Die Anhänger der Reformbewegung akzeptierten zwar die Gegebenheiten der technisierten Umwelt grundsätzlich, wollten die Gesellschaft aber durch einen evolutionären Prozess positiv verändern.
Gesunder Lebenswandel: Die Lebensreformbewegung als Antwort
Allerdings existiert dabei nicht „die eine „Lebensreformbewegung“. Es handelt sich dagegen um einen Sammel- bzw. Oberbegriff, der ein relativ breites Spektrum vielfältiger Bewegungen subsumiert (siehe Übersichtsgrafik rechts). Überschneidungspunkte zwischen den einzelnen Ausprägungsformen stellen neben der Kritik an der Industrialisierung, am Materialismus und an der Urbanisierung auch der Anspruch dar, den Menschen von diesen Übeln der modernen Welt zu „erlösen“. Daneben finden sich weitere Querverbindungen, die an der allgemeinen Erhöhung der Natur und des Natürlichen festgemacht werden können. So kennzeichneten die Lebensreformbewegungen ein intensiver Naturglaube, das Ideal eines am Naturzustand orientieren Lebensstils und der Anspruch, an eine grundsätzliche Erneuerung der gesamten Lebensweise.
Die richtige Lebensweise und die damit verbundene Gesundung des Körpers sollte wiederum auch eine Gesundung des Geists zur Folge haben. Mehr noch: Durch die Arbeit am Individuum beabsichtigten führende Vertreter der Bewegung, die geistige Gesundung der ganzen Gesellschaft herbeiführen. Diese war nach Auffassung der Lebensreformer der Natur schon weit entrückt worden. So beabsichtigte die Lebensreform, durch ein möglichst naturgemäßes Leben dem Menschen langfristig die Rückkehr des Menschen zu einem ganzheitlichen Lebensstil im Einklang mit der Natur zu ermöglichen. Manche Forscher betrachten die Lebensreform deswegen auch als eine Art säkularisierte Erdlösungslehre.
Innere und äußere Kreise der Lebensreform
Da die verschiedenen Bewegungen der Lebensreform vielfältig waren und auf den ersten Blick so unterschiedliche Strömungen wie dem Vegetarismus, den Tierschutz, FKK und Nudismus, aber auch die Anti-Alkoholbewegung mit einschließen, unterscheidet die historische Forschung (nach Wolfgang Krabbe) einen „engeren Kreis“ organisierter Reformbewegungen und einen „äußeren Kreis“. In den engeren Kreis fallen die „klassisch“ lebensreformerischen Bewegungen, wie der Vegetarismus, der Nudismus und die Naturheilkunde.
Im „äußeren Kreis“ der Lebensreformbewegungen verortet die historische Forschung die reformerischen Bewegungen, welche in ihrem umfangreichen sozial- und kulturgeschichtlichen Kontext auch Verbindungen mit anderen, der Lebensreformbewegung nicht mehr zugehörigen Bestrebungen aufweisen. Dazu zählt beispielsweise die Anti-Alkoholbewegung und die Anti Tabak- und Nikotinbewegung, die von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen getragene Antwort auf die Alkoholfrage und die Tabakfrage. Diese Reformbewegungen weisen Querverbindungen mit der der bürgerlichen Sozialreform oder auch der sozialistischen Arbeiterbewegung auf. nach oben ↑
Artikel erstmals erschienen am 5. April 2015
Google und Geschichte – Robin Brunold studierte neuere und Neueste Geschichte, Mittelalterliche Geschichte und politische Wissenschaften und absolvierte seinen Magisterabschluss im Januar 2013 an der LMU München. Davor hat er die Waldorfschule Ismaning besucht und mit dem externen Abitur abgeschlossen. Heute arbeitet er selbstständig im Bereich Suchmaschinenmarketing und als Freier Historiker.
Literatur und Auswahlbibliographie
- Barlösius, Eva: Naturgemäße Lebensführung: Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. 1997*.
- Krabbe, Wolfgang: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode. 1974*.
- Kerbs, Diethart: Ästhetische Reformbewegungen um 1900; in: Herrmann, Ulrich (Hrsg.): „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung. 2006*.
- Martynkewicz, Wolfgang: Das Zeitalter der Erschöpfung: Die Überforderung des Menschen durch die Moderne. 2013*.
- Radkau, Joachim: Die Verheißungen der Morgenfrühe. Die Lebensreform in der neuen Moderne; in:. Buchholz, Kai (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Bd. 1, Darmstadt 2001. S. 57*.
- Radkau, Joachim: „Ins Freie, ins Licht! Die Lebensreformer der Jahrhundertwende suchten nach Wegen in eine alternative Zukunft. Die autoritäre Gesellschaft des Kaiserreichs war ihnen ebenso zuwider wie die kapitalistische Moderne. Fachartikel auf Zeit Online, abrufbar unter: http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2013/02/reformbewegung-alternative-moderne. Datum der letzten Einsichtnahme 04.04.2015
- Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Wuppertal 1998*.
- Walter, Franz: Republik das ist nicht viel. Partei und Jugend in der Krise des Weimarer Sozialismus. 2011.
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