Wenn es um radikalen Nationalismus in Deutschland geht, denken die meisten Menschen zuallererst an den Nationalsozialismus. Auch jüngere Vertreter der äußersten Rechten werden häufig direkt oder indirekt in einen Bezug zur NSDAP gestellt. Dabei gab es in der Weimarer Republik und sogar schon zuvor viele Gruppierungen, die durchaus ähnliche Ansichten vertraten. Einer davon war der Alldeutsche Verband. Er wurde noch im wilhelminischen Kaiserreich gegründet und erst 1939 unter verworrenen Umständen durch die NS-Regierung aufgelöst.
Zu seinen Mitgliedern gehörten zeitweise so prominente Persönlichkeiten wie der Soziologe Max Weber oder der spätere deutsche Außenminister Gustav Stresemann. Doch wie stellte sich der Verband die Zukunft des Deutschen Reiches eigentlich vor? Was machte seinen Nationalismus so radikal und wer waren diese Männer und Frauen, die so vehement für eine Stärkung des deutschen Nationalgefühls eintraten?
1. Der Alldeutsche Verband im deutschen Kaiserreich
1.1. Vorgeschichte
Seinen Ursprung hatte der Verband in der deutschen Kolonialbewegung, die sich im neu gegründeten Kaiserreich formierte. Denn anders als man erwarten könnte, war der radikale Nationalismus im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts durchaus ein international beeinflusstes Phänomen. Er war geprägt vom imperialen Wettstreit der europäischen Großmächte und von der Forderung zahlreicher Politiker, Unternehmer und Militärs nach einem deutschen „Platz an der Sonne“, wie Bernhard von Bülow es 1897 während seiner Zeit als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes formulieren sollte.
Der Versuch, diese Interessen zu bündeln, führte jedoch bereits neun Jahre zuvor, am 13. September 1886, zur Veranstaltung eines Ersten Allgemeinen Deutschen Kongresses zur Förderung überseeischer Interessen. Als Leiter dieses Berliner Gipfeltreffens deutscher Kolonialverbände fungierte Carl Peters. Dieser war berühmt für seine maßgebliche Beteiligung an der Gründung der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Berüchtigt war er für seine dortigen Verbrechen, die ihm schon damals den Spitznamen „Hänge-Peters“ einbrachten. Resultat des Treffens war die Gründung eines Allgemeinen Deutschen Verbandes.
Zwar löste dieser sich wegen interner Uneinigkeiten über seine Ziele rasch wieder auf. Dabei sollte es allerdings nicht bleiben, denn 1890 schloss das Kaiserreich mit Großbritannien den Helgoland-Sansibar-Vertrag ab, der unter deutschen Nationalisten einen großen Aufschrei verursachte. Obwohl das Auswärtige Amt lediglich zugesichert hatte, auf Sansibar als Interessensphäre zu verzichten, wurde das Abkommen vielfach so dargestellt, als habe das Reich eine bereits erworbene Kolonie preisgegeben. Jedenfalls war die wenig exotisch wirkende Nordseeinsel Helgoland kein Überseeterritorium, das die deutschen Agitationsverbände als angemessene Kompensation gelten ließen.
Carl Peters nutzte die Gunst der Stunde, um gemeinsam mit einigen ehemaligen Mitgliedern einen neuen Allgemeinen Deutschen Verband aus der Taufe zu heben. Bei der konstituierenden Versammlung am 9. April 1891 in Berlin wirkte auch ein gewisser Alfred Hugenberg mit, der nach 1918 als Medienmogul, Parteivorsitzender der DNVP und Koalitionspartner Adolf Hitlers wesentlich bekannter werden sollte. Die schwierige finanzielle Situation sorgte jedoch neben fortwährenden organisatorischen Streitigkeiten für eine stark schwankende Mitgliederzahl. Eine gewisse Stabilität kehrte erst im Juli 1893 ein, als der Statistikprofessor und nationalliberale Reichstagsabgeordnete Ernst Hasse die Verbandsleitung übernahm. Dieser hatte sich zuvor bereits durch mehrere Auszeichnungen in den Einigungskriegen von 1866 und 1870/71 sowie durch seine Mitgliedschaft im Deutschen Kolonialverein einen Namen gemacht. Er organisierte den Verband deutlich straffer und zentralistischer als zuvor, sodass die einzelnen Ortsgruppen ihre Mitgliederzahlen nun exakt schriftlich festhalten und regelmäßig Berichte und Protokolle an die Verbandsleitung in Berlin übersenden mussten. Um Verwechslungen mit einer ähnlich klingenden Berliner Organisation namens „Allgemeiner Deutscher Verein“ zu vermeiden, wurde schließlich 1894 die offizielle Bezeichnung „Alldeutscher Verband“ gewählt.
1.2. Deutsche Machtstellung nach außen und innen
Der Alldeutsche Verband war nur eine von vielen politischen Vereinigungen, die im Deutschland der 1890er Jahre entstanden. Allgemein erfreuten sich bürgerliche Vereine als Instrument zur Durchsetzung politischer Forderungen im Kaiserreich einer stark wachsenden Beliebtheit. Nach der Schaffung eines vereinten deutschen Nationalstaats und eines deutschen Reichstags entwickelte sich ein großes Interesse an politischen Themen, was durch das allgemeine, gleiche Männerwahlrecht noch zusätzlich verstärkt wurde. Insofern kann das rasant anschwellende Vereinswesen der damaligen Zeit als Zeichen einer zunehmenden Demokratisierung der Bevölkerung gelten. Andererseits bildete gerade dieses Umfeld auch die Grundbedingungen für einen radikalen deutschen Nationalismus, der sich vor allem im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als neuartige Erscheinungsform herauskristallisierte.
1898 stellte der alldeutsche Schullehrer Hugo Grell die Ziele des Verbandes in einer 25-seitigen Flugschrift vor. Darin erklärte er unter anderem, die Verbandszeitschrift würde Aspekte „aus allen Gebieten nationalen Lebens“ behandeln. Grell brachte hiermit kurz und kompakt auf den Punkt, was den Alldeutschen Verband von anderen nationalistischen Agitationsvereinen im Kaiserreich unterschied. Denn anders als der Deutsche Flottenverein, der Ostmarkenverein oder der erst 1912 gegründete Deutsche Wehrverein begnügten sich die Alldeutschen nicht damit, sich einem einzigen Thema zu widmen. Ihr Ziel war keine bloße Interessenvertretung, sondern eine umfassende Stärkung der deutschen Nation nach außen, die durch eine ebenso umfassende Festigung und Homogenisierung im Innern erreicht werden sollte. Diese Nation definierten sie als Abstammungsgemeinschaft, die sowohl durch sprachliche und kulturelle als auch durch rassenbiologische Verbindungen zusammengehalten werde.
Die vornehmste Aufgabe des Verbandes ist nach seinen Satzungen die Stärkung des deutschen Nationalgefühls. Diesem Zwecke dient vor allem seine Zeitschrift, die „Alldeutschen Blätter“ […]. In höchst geschickter Weise von Dr. Lehr geleitet, enthalten dieselben stets eine Reihe anregender und von entschieden deutscher Gesinnung getragener Abhandlungen aus allen Gebieten nationalen Lebens.
Hugo Grell: Der Alldeutsche Verband, seine Geschichte, seine Bestrebungen und Erfolge, München 1898, S. 9.
Zwar vergötterten sie den ersten Reichskanzler Otto von Bismarck in geradezu mythischer Art und Weise und erklärten all seine Nachfolger durchweg für schwach und unfähig. Jedoch war die Reichsgründung für sie nur der Ausgangspunkt einer zukünftigen Entwicklung, die Deutschland letztlich zu einer Weltmachtstellung auf einer Stufe mit Großbritannien, den USA und Russland emporführen sollte. Auch Frankreich als „Erbfeind“ von 1870/71 spielte in ihrem Denken eine Schlüsselrolle, obwohl die Haltung zu verschiedenen europäischen Staaten von Verbandsmitglied zu Verbandsmitglied variieren konnte. Sie entwarfen damit das Bild einer ruhmreichen deutschen Vergangenheit, benannten jedoch zugleich das künftige Schicksal Deutschlands sowie seine vermeintlichen Feinde, die es zu bekämpfen galt. Zudem verlangten sie von jedem Deutschen absolute Loyalität gegenüber seiner Nation. Damit waren sie die erste Organisation im Reich, die eine zusammenhängende radikalnationalistische Ideologie hervorbrachte.
Da der Alldeutsche Verband aus der deutschen Kolonialbewegung hervorgegangen war, gehörte die Erweiterung des Kolonialbesitzes weiterhin zu seinen dringendsten außenpolitischen Forderungen. Auch die bereits bestehenden Kolonien beäugte er argwöhnisch und wollte diese nach Kräften gesichert wissen. Als deutsche Truppen sich zwischen 1899 und 1901 an der Niederschlagung des chinesischen „Boxeraufstands“ beteiligten, lobte Ernst Hasse diesen vermeintlichen Beitrag zur Zivilisierung der gesamten Menschheit. Damit dieser Einsatz Wirkung erziele, müsse jedoch der chinesische Prinz Yuan „einen Kopf kürzer gemacht“ werden. Auch die Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) sowie die „Schutzgebiete“ auf den Südseeinseln Fidschi und Samoa wurden von den Alldeutschen aufmerksam beobachtet, da der Verband eine allmähliche Verdrängung der dortigen Deutschen durch englische Siedler und Kaufleute befürchtete.
Man wird dabei auf der einen Seite sich von aller Sentimentalität freihalten müssen und nicht ohne weiteres christlich-europäische Anschauungen auf heidnisch-asiatische Verhältnisse übertragen wollen. Wir meinen darunter, daß man Leute, wie den Prinzen Juan nicht wie seinerzeit Napoleon III. in Wilhelmshöhe gefangen setzen darf, sondern ihn, wenn man ihn hat, einen Kopf kürzer machen muß.
Ernst Hasse: Was wir in China wollen! In: Alldeutsche Blätter 10. Jg. (29. Juli 1900), Nr. 31, S. 305-308. Hier S. 305.
Mit der bloßen Ansiedlung von Deutschen war es allerdings nicht getan. So versuchte der Verband, die deutschen Minderheiten in Brasilien, den USA und Australien zur Pflege ihrer deutschen Sprache und Kultur zu ermuntern. Aus demselben Grund mischte er sich auch in die politische Diskussion über den südafrikanischen Zweiten Burenkrieg von 1899 bis 1902 ein. Da der Verband die Buren und auch die Niederländer auf dem europäischen Festland als „Niederdeutsche“ einstufte, ging er auf scharfen Konfrontationskurs gegenüber dem Aggressor Großbritannien. Im britischen Empire erblickte er gleichzeitig das große Vorbild für ein künftiges deutsches Weltreich, andererseits auch einen Rivalen, dessen Macht beschnitten werden müsse. Darum machte er sich auch für eine massive Aufrüstung der deutschen Flotte stark, worin sich sein Programm mit dem des Flottenvereins überschnitt. Allerdings war die Opposition der Alldeutschen gegen die Reichsregierung zumeist deutlich schärfer.
Im Gegensatz zu seinen Vorläufern beschränkte sich der Alldeutsche Verband allerdings nicht auf eine deutsche Expansion in Übersee. Der Begriff „Kolonie“ hatte für ihn eine ähnlich weit gefasste Bedeutung wie im antiken Griechenland. Damit konnte er auf alle deutschen Bevölkerungsgruppen außerhalb des Kaiserreichs angewandt werden, also auch auf die Russlanddeutschen oder die deutsche Minderheit im rumänischen Siebenbürgen. Daher begeisterten sich viele Alldeutsche für ein neues Konzept, um das angestrebte überseeische Kolonialreich zu ergänzen: die Idee eines deutsch beherrschten Machtbereichs in Mitteleuropa. Art und Umfang dieses Konzepts blieben zwar umstritten. So zielten viele Vorschläge zunächst auf eine Wirtschaftsunion zwischen Deutschland und seinen kleineren Nachbarstaaten ab, um diese schrittweise in ein Abhängigkeitsverhältnis zu bringen und sie schließlich auch politisch dem Reich einzuverleiben.
Die maximal vorgesehene Flächenbasis dieses innereuropäischen Imperialismus beeindruckt dennoch: So sollte das alldeutsche Mitteleuropa einigen Plänen zufolge von den Niederlanden und Belgien im Nordwesten bis zum Baltikum im Nordosten und bis nach Rumänien im Südosten reichen. Der Alldeutsche Paul Dehn prophezeite sogar, dass sämtliche Völker zwischen Deutschland und Russland letztlich dazu bestimmt seien, sich entweder im westlichen oder im östlichen Nachbarreich aufzulösen. Im Süden standen auch die Schweiz und Südtirol als künftige deutsche Gebiete zur Diskussion. Als historische deutsche Siedlungsgebiete und ehemalige Territorien des Heiligen Römischen Reiches wurden sie vom Alldeutschen Verband beansprucht. Dadurch waren ständige Konflikte nicht nur mit Frankreich, sondern auch mit Italien vorprogrammiert. Auch ein Vielvölkerstaat wie Österreich-Ungarn erschien den nationalistisch denkenden Alldeutschen bestenfalls als künstliches Gebilde und als notdürftiger Verbündeter, wenn sie nicht sogar insgeheim auf seinen Untergang hofften.
So sehr die Alldeutschen sich für die deutschen Minderheiten im Ausland einsetzten, so massiv wandten sie sich gegen die „fremdsprachigen“ Minderheiten im Innern. Gerade in Preußen hatten bereits vor 1871 zahlreiche polnischsprachige Menschen gelebt, die nun als vermeintlich „fremdartige“ Bewohner des deutschen Nationalstaats immer stärker ausgegrenzt wurden. Auch in Nordschleswig und Elsaß-Lothringen lebten viele Menschen, deren Muttersprache nicht oder nicht nur Deutsch war. Der Alldeutsche Verband ärgerte sich über den Gebrauch der polnischen, französischen oder dänischen Sprache innerhalb der Reichsgrenzen und forderte eine lückenlose Durchsetzung des deutschsprachigen Schulunterrichts. Er zählte französische und deutsche Inschriften auf elsässischen Grabsteinen, bezichtigte die Katholiken im Reich als Sympathisanten der Polen und lobte die Arbeit der Preußischen Ansiedlungskommission, die gezielt Land von verschuldeten polnischen Eigentümern erwarb und es in bevölkerungspolitischer Absicht an deutsche Käufer vermittelte.
Doch nicht nur ethnisch, sondern auch politisch strebte er eine radikale innere Homogenisierung Deutschlands an. Da er die stetig wachsende Arbeiterschaft für zu ungebildet hielt, um politisch mitzubestimmen, forderte er ein abgestuftes Klassen- oder Pluralwahlrecht, das Angehörige des Bildungsbürgertums bevorzugte. Tatsächlich war diese Idee nicht rein konservativen Ursprungs, sondern deckte sich mit dem, was viele liberale Parteien des 19. Jahrhunderts gefordert hatten. Denn auch diese fanden ihre Wähler hauptsächlich unter gebildeten Bürgern und waren daher an einer vollständigen Demokratisierung der Politik gar nicht unbedingt interessiert. Auf diese Weise hoffte der Alldeutsche Verband, den Sozialismus als Ideologie der Arbeiter zu bekämpfen und denjenigen Parteien zu Wahlerfolgen zu verhelfen, die er als „national zuverlässig“ ansah.
1.3. Ein bildungsbürgerlicher Honoratiorenverein
Die Alldeutschen vereinten somit Elemente aller übrigen nationalistischen Verbände des Kaiserreichs in ihrem Programm: der Kolonialgesellschaft, des Flottenvereins, des Ostmarkenvereins, des Vereins für das Deutschtum im Ausland und des Reichsverbands gegen die Sozialdemokratie. Aber wie bei den meisten anderen Vereinen ähnlicher Art gab es da etwas, das ihr Selbstbild als Verkörperung des deutschen Volkswillens in Frage stellte: Ihre Anhängerschaft reichte kaum über das akademisch gebildete Bürgertum hinaus.
Bereits zur Entstehungszeit des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert waren es vor allem Professoren, Lehrer, Beamte, Mediziner, Juristen, Wirtschaftsexperten und andere Ehrenbürger gewesen, die der Bevölkerung zu erklären versuchten, was die „deutsche Nation“ sei und warum es so wichtig sei, ihr zu dienen. Die Alldeutschen änderten an dieser Situation recht wenig. 1901 bestand der Verband zu fast 30% aus Inhabern akademischer Berufe und zu weiteren 22% aus Künstlern, Lehrern und Beamten. Kaufleute machten etwa 27% aus. Damit waren die meisten Alldeutschen in sozialer Hinsicht eindeutig privilegiert.
Allerdings galt dies tendenziell eher für ihre Bildung als für ihren Besitz, denn für die besonders wohlhabenden Unternehmer und Industriellen war der etwas moderatere Nationalismus der Kolonialgesellschaft oder des Flottenvereins zumeist attraktiver. Der Charakter des Alldeutschen Verbands als bildungsbürgerlicher Honoratiorenverein wurde noch dadurch verstärkt, dass mehr als ein Drittel der Mitglieder im Geschäftsführenden Ausschuss promoviert war. Ein überproportional hoher Anteil von ihnen arbeitete im Staatsdienst. Auch in den Alldeutschen Blättern schrieben oft Doktoren oder sogar Professoren. Damit handelte es sich eindeutig um Menschen, die sich als „Wächter deutscher Kultur“ (Roger Chickering) verstanden und sich selbst in der Pflicht sahen, die deutsche Bevölkerung in ihrem Sinne aufzuklären und zu nationalem Bewusstsein zu erziehen.
Allerdings erwies sich die Arbeiterschaft hierfür kaum als empfänglich. Weniger als ein Prozent der Verbandsmitglieder waren Arbeiter. Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass der Verband eine Bekehrung der Arbeiterschaft zum radikalen deutschen Nationalismus erst in ferner Zukunft für möglich hielt und es deshalb zunächst vorzog, diesen potenziellen „Reichsfeinden“ das Wahlrecht zu verweigern. Auch Angehörige des unteren Mittelstands wie Handwerker und Angestellte waren im Verband nicht so stark repräsentiert wie in faschistischen Parteien der 1920er Jahre. Soziale Abstiegsängste, wie sie heute oft als Ursache für das Anwachsen nationalistischer oder rechtspopulistischer Parteien vermutet werden, kommen hier als Erklärungsansatz offenbar nicht in Frage.
In anderer Hinsicht verfügten viele Alldeutsche jedoch sehr wohl über Außenseitererfahrungen. Gerade in der Gründergenerationen des Verbands fanden sich viele Deutsche, die außerhalb der Reichsgrenzen geboren und aufgewachsen waren, beispielsweise in Österreich-Ungarn, im Baltikum oder unter der deutschen Minderheit in den USA. Diese Menschen fühlten sich in den Staaten, in denen sie lebten, häufig nicht vollständig heimisch. Zugleich fühlten sie sich jedoch durch die kleindeutsche Reichsgründung von 1871 auch aus der nationalen Gemeinschaft der Deutschen ausgeschlossen. Dementsprechend pochten sie nicht nur darauf, ihre deutsche Staatsangehörigkeit behalten zu dürfen, sondern auch darauf, ihre Sprache und Kultur möglichst unverändert zu pflegen.
Mit der Alldeutschen Vereinigung existierte im deutschsprachigen Österreich zudem eine programmatisch vergleichbare Organisation, die zwar mit den Alldeutschen im Kaiserreich nicht identisch war. Dennoch gab es Versuche, beide Gruppen miteinander verschmelzen zu lassen. Auch diejenigen Alldeutschen, die innerhalb der Reichsgrenzen sozialisiert waren, verfügten häufig über signifikante Auslandserfahrungen und hatten zumindest viele Jahre außerhalb des deutschen Nationalstaats verbracht, wie beispielsweise Eduard von Liebert, ein Infanteriegeneral und Gouverneur der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Der Verband diente ihnen als Ort, wo sie sich ihres deutschen Gemeinschaftsgefühls versichern konnten. Trotz ihres Anspruchs, im gesamtdeutschen Interesse zu sprechen und zu agieren, handelte es sich bei den Alldeutschen in sozialer Hinsicht tatsächlich um eine sehr spezielle Gruppe. Sie waren keineswegs repräsentativ für die Gesamtbevölkerung des Kaiserreichs.
Dennoch wiesen ihre Selbstdarstellung und ihre schroffe Agitation gegen die Regierungspolitik durchaus populistische Elemente auf. Dazu passte auch ihr Grundsatz der vermeintlichen „Überparteilichkeit“, auf den sie sich immer wieder beriefen. Tatsächlich legte der Verband gegenüber den Parteien von vornherein ein gewisses Misstrauen an den Tag, weshalb der Versuch, eine Nationalpartei unter dem Vorsitz von Ernst Hasse zu gründen, schnell scheiterte. So waren die Alldeutschen der Ansicht, dass Parteien häufig nicht am Gesamtinteresse des Volkes, sondern nur an ihrem eigenen Interesse oder den Wünschen ihrer jeweiligen Wählerschaft interessiert seien.
Daher müsse es über den Parteien eine Macht geben, die diese kontrolliere und die vermeintlich wahren Bedürfnisse des Volkes umsetze, ob dies nun der Kaiser oder ein besonders mächtiger Reichskanzler mit annähernd diktatorischen Vollmachten sein sollte. Populismus und Autoritarismus lagen in ihrem Denken also stets nah beieinander. Trotzdem ist der Begriff der „Überparteilichkeit“ irreführend. Denn diejenigen Alldeutschen, die in politischen Parteien organisiert waren, gehörten im Kaiserreich fast ausschließlich den Nationalliberalen oder den beiden konservativen Parteien an. Die Einstellung des Verbandes gegenüber der SPD war einmütig feindselig. Auch die Linksliberalen erschienen ihm kaum weniger gefährlich, jedenfalls kaum noch als „bürgerliche“ Partei. Der katholischen Zentrumspartei misstrauten sie ebenfalls, da sie diese Partei in Anlehnung an Bismarcks „Kulturkampf“ für „ultramontan“ hielten. Mit anderen Worten: Die Loyalität der Zentrumspolitiker und auch ihrer Wähler gelte eher dem römisch-katholischen Papst jenseits des alpinen Gebirges als dem Deutschen Reich.
Damit sorgte der Verband dafür, dass seine Mitgliedschaft sich weit überwiegend aus Protestanten zusammensetzte. Sein potenzielles Publikum begrenzte er damit noch weiter. Im katholisch geprägten Westen und Süden des Reichs konnte er ebenso wenig Fuß fassen wie in Regionen, die über eine große sozialdemokratische Wählerschaft verfügten. Auch im stark ländlich geprägten Ostpreußen, wo es kaum Städte und daher kaum ein ausgeprägtes Bildungsbürgertum gab, existierte vor 1914 gerade mal eine einzige alldeutsche Ortsgruppe. Somit konzentrierte sich seine Anhängerschaft hauptsächlich auf das alte Brandenburg-Preußen sowie Sachsen, die Hauptstadt Berlin, Hafenstädte wie Hamburg und Bremen mit unmittelbarem Handelsbezug zu den deutschen Kolonien sowie im Rheinland auf einige wenige Großstädte wie Düsseldorf und Köln.
Zwar waren viele Alldeutsche auch in anderen nationalistischen Agitationsverbänden aktiv und konnten dort ihre Ideen weiterverbreiten, was allerdings auch umgekehrt galt. Zudem kann man davon ausgehen, dass die zahlreichen alldeutschen Hochschuldozenten einen gewissen Einfluss auf ihre Studierenden ausübten, auch wenn dieser Einfluss sich denkbar schwer messen lässt. All dies änderte jedoch nichts daran, dass der Alldeutsche Verband vor 1914 niemals über 22.00 Mitglieder hinauskam. Im Vergleich zum Flottenverein mit bis zu 330.000 Einzelmitgliedern oder erst recht zu den verhassten sozialdemokratischen Gewerkschaften mit mehreren Millionen Mitgliedern blieb er damit ein organisatorischer Zwerg. Sein Anspruch, für das gesamte deutsche Volk zu sprechen, ruhte somit auf bemerkenswert tönernen Füßen. Vielmehr war seine Zusammensetzung sehr elitär.
1.4 Zunehmende Radikalisierung und „nationale Opposition“
Diese Umstände hinderten den Verband allerdings nicht daran, seine Ansichten immer kompromissloser verlauten zu lassen. Gerade in einer Zeit, als die Linksliberalen die Flottengesetze der Reichsregierung mittrugen, das Zentrum sich zunehmend mit dem deutschen Nationalstaat arrangierte und selbst einige SPD-Politiker Argumente für eine deutsche Kolonialpolitik fanden, musste der Alldeutsche Verband befürchten, ins Abseits zu rutschen. Das Ergebnis war seine zunehmende Radikalisierung. Auf dem Verbandstag von Plauen im Jahre 1903 vereinbarte er eine Änderung seiner Satzung, sodass der „Rassegedanke“ nun offiziell zu seinen schriftlichen Grundsätzen gehörte. Gleichzeitig blieben aber auch kulturelle Gesichtspunkte als Grundlage zur Definition des deutschen Volkes erhalten. Auch der Verbandsleiter Hasse verkündete nun in seinem Buch Die Zukunft des deutschen Volkstums: „Unsere Zukunft liegt im Blute!“ Dem Begriff der „Rasse“ widmete er dort ein eigenes Kapitel. Zudem entwickelte er erstmals die Idee eines Einwanderungsverbots gegen Juden, obwohl der Antisemitismus es weiterhin nicht als zentrales Thema in die Alldeutschen Blätter schaffte und auch nicht von allen Verbandsmitgliedern geteilt wurde. Hasses neue Ideen wurden jedoch von einer jüngeren, radikaleren Generation von Alldeutschen aufgegriffen, die zur Zeit der Einigungskriege noch nicht alt genug gewesen waren, um als Soldaten zu kämpfen. Diesen Umstand empfanden viele von ihnen als Makel, weshalb sie nun umso vehementer versuchten, sich als Wegbereiter eines neuen Deutschlands zu inszenieren.
Einer von ihnen war der 1868 in Rheinhessen geborene Rechtsanwalt Heinrich Claß. Seit der Plauener Tagung erweiterte er seinen Einfluss im Verband stetig, bis er schließlich nach dem Tod Hasses 1908 den Vorsitz übernahm. Ein Jahr später verlegte er die Geschäftsstelle der Alldeutschen an seinen Wohnort nach Mainz und übernahm persönlich die Herausgabe der Alldeutschen Blätter. Dadurch gelang es ihm, den Verband deutlich stärker zu zentralisieren und auf die Bedürfnisse seiner Person auszurichten. Durch seine langjährige Mitgliedschaft in Friedrich Langes völkisch-antisemitischem Deutschbund fungierte er als Bindeglied zwischen dem Alldeutschen Verband und den noch radikaleren Randvertretern des deutschen Nationalismus.
Sein bildungsbürgerliches Selbstbewusstsein und seine Forderungen nach einer grundlegenden Umgestaltung des Reiches demonstrierte er in seiner Schrift Wenn ich der Kaiser wär´, die erstmals 1912 unter dem Pseudonym Daniel Frymann erschien. Darin machte sich Claß auch die Ansichten der Antisemitenparteien zu eigen, indem er behauptete, die Juden seien in erster Linie eine „Rasse“ und erst dann eine Religionsgemeinschaft. Den Gegensatz zwischen dieser vermeintlich fremden „Rasse“ und den deutschen Interessen stellte Claß als unüberbrückbar dar. Zudem häuften sich unter seinem Vorsitz die Pläne zu einem Staatsstreich. Dabei hofften die Alldeutschen zwar auf Unterstützung durch den Kaiser. Das Ziel war jedoch eine nationalistische Diktatur im vermeintlichen Interesse des deutschen Volkes. Obwohl er gelegentlich weiterhin mit einzelnen Regierungsmitgliedern oder Vertretern staatlicher Stellen kooperierte, sah der Verband sich nun immer stärker als Wortführer einer sogenannten „nationalen Opposition“.
Und dem Gesetze seines Wesens entsprechend – keiner kann aus seiner Haut, das gilt auch für alles rassenmäßig Ererbte; ist der Jude in allem, was er angreift, Jude. Treibt er Politik, so kann er sie nur als Jude betreiben, d. h. ohne Sinn und Verständnis für das Sich-Einfügen, für Unterordnung, ohne Liebe für das geschichtlich und organisch Gewordene; wird er Anwalt, so wirkt er zersetzend, weil seine angeborenen Rechtsbegriffe im Widerspruch stehen zu denen, die dem geschriebenen deutschen Rechte innewohnen, und es kommt zu jenen talmudischen Praktiken, die Recht zu Unrecht verdrehen wollen und umgekehrt; wirft er sich auf die Kunst, so fehlt ihm die Innerlichkeit, die doch der Mutterboden jeder selbstschöpferischen Leistung ist.
Daniel Frymann: Wenn ich der Kaiser wär´. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, 5. erw. Aufl. Leipzig 1914, S. 32f.
Als die Zweite Marokkokrise 1911 beinahe zu einem europäischen Krieg führte, musste das Deutsche Reich auf koloniale Ansprüche in Westmarokko verzichten. Die Alldeutschen versuchten dies erfolglos zu verhindern, indem sie mit dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Alfred Kiderlen-Wächter, zusammenarbeiteten. Die Hoffnungen des Verbandes auf die Rückkehr einer starken deutschen Überseepolitik wurden somit enttäuscht. Um wenigstens die deutsche Vormachtstellung auf dem Kontinent auszubauen, initiierten die Alldeutschen Claß und August Keim 1912 die Gründung des Deutschen Wehrvereins. Als Pendant zum Flottenverein sollte sich diese neue Gruppierung für eine Aufrüstung des deutschen Heeres stark machen. Die Krise hatte verdeutlicht, dass europäische Streitigkeiten um überseeischen Kolonialbesitz womöglich zu einem Krieg in Europa selbst führen konnten. Eben diesen Krieg erwarteten die Alldeutschen nun mit zunehmender Gewissheit. Als er im Sommer 1914 schließlich eintrat, fühlten sie sich in all ihren Voraussagen der vergangenen zwanzig Jahre bestätigt.
1.5 Der Alldeutsche Verband im Ersten Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg war in den Augen des Verbandes die lang ersehnte Gelegenheit, um endlich die deutsche Weltmachtstellung durchzusetzen, von der er immer geträumt hatte. Die oft postulierte allgemeine Kriegsbegeisterung gab es in Deutschland zwar weder im August 1914 noch während der nachfolgenden vier Jahre. Doch zumindest im Bildungsbürgertum waren die nationalistischen Gefühle relativ stark. Trotzdem war die Situation des Verbandes im Krieg keineswegs einfach, denn seine Konflikte mit der Reichsleitung nahmen stetig zu. Das lag allerdings weniger am Inhalt seiner Forderungen, sondern eher an seinen Versuchen, die Regierung wegen ihrer angeblich schwachen Kriegsführung zu diskreditieren. Zunächst einmal forderte der Verband zu uneingeschränkter Bündnistreue gegenüber Österreich-Ungarn auf. Das kam etwas überraschend, denn in den vorherigen Jahren waren die Alldeutschen nicht immer vom Sinn dieses Bündnisses überzeugt gewesen. Der Krieg gegen Serbien und Russland verstärkte allerdings den Antislawismus der meisten Alldeutschen und schien eine enorme territoriale Vergrößerung des Kaiserreichs bis weit nach Russland zu ermöglichen. Hierzu war die Habsburgermonarchie nun der einzige verbliebene Bündnispartner. Stimmen wie die des alldeutschen Publizisten Theodor Reismann-Grone, der einen Krieg ausschließlich gegen die Westmächte forderte, konnten sich nicht durchsetzen. Reismann-Grone verließ daher den Verband und sollte später seinen Weg zur NSDAP finden.
Unterdessen veröffentlichte Claß im Oktober 1914 eine Kriegszieldenkschrift, ohne sich vorab mit den Verbandsgremien darüber abzustimmen. Der Krieg ließ seinen alleinigen Führungsanspruch somit noch stärker hervortreten. In seiner Denkschrift forderte er, Russland so weit wie möglich aus Europa zu verdrängen. Dies hätte für das Zarenreich den Verlust des gesamten Belarus, des Löwenanteils der Ukraine sowie großer baltischer Regionen bedeutet. Der Verbandsvorsitzende spielte außerdem mit der Idee eines selbständigen Königreichs Polen, was er später jedoch wieder verwarf. Doch auch der Krieg gegen Frankreich wurde von den Alldeutschen zeitweise als eine Art Vernichtungskrieg zwischen „Germanen“ und „Galliern“ interpretiert. Claß forderte die Annexion eines östlichen französischen Grenzstreifens sowie ganz Belgiens durch das Deutsche Reich und hoffte auf einen freiwilligen Beitritt der Niederlande und Luxemburgs. Besonders radikal an den innereuropäischen Annexionsforderungen war Claß´ Konzept einer Übergabe von „Land frei von Menschen“. Große Teile der französischen Bevölkerung sollten demnach aus ihrer Heimat ausgewiesen und durch Deutsche ersetzt werden. Auch in Osteuropa war ein umfassender „Austausch“ der Bevölkerung nach ethnischen und rassistischen Kriterien vorgesehen. Mit einer französischen und belgischen Niederlage verband Claß jedoch noch weitere Hoffnungen. Denn auch die Kolonie Belgisch-Kongo würde dadurch an das Deutsche Reich fallen. Dasselbe galt für zahlreiche französische Kolonien. Ein Sieg über relativ kleine europäische Nachbarstaaten konnte somit riesige Gebietsgewinne in Afrika ermöglichen.
Der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg war zwar alles andere als ein Gegner hoher Kriegszielforderungen. Dennoch wurde Claß´ Denkschrift im Januar 1915 von den Mainzer Militärbehörden beschlagnahmt und sein Haus mehrfach durchsucht. Eine hitzige öffentliche Debatte über die Zeit nach dem Krieg war das Letzte, was die Reichsleitung jetzt gebrauchen konnte. Dadurch war der Bruch mit der Regierung besiegelt. Claß versuchte nun, einen Sturz des Reichskanzlers zu erwirken. Als dieser im Zuge der Auseinandersetzungen mit der Obersten Heeresleitung tatsächlich sein Amt verloren hatte, erwarb Claß die Deutsche Zeitung als zusätzliches Agitationsmittel und versuchte, wenn auch vergeblich, die maßgeblichen Führungspersonen der Obersten Heeresleitung, Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, für die offizielle Ausrufung einer Militärdiktatur zu gewinnen.
Diese Maßnahmen brachten Claß den Ausstieg vieler gemäßigter Verbandsmitglieder ein, die den stramm antiparlamentarischen Kurs des Vorsitzenden nicht mehr mittragen wollten, darunter auch Gustav Stresemann. Unter vielen Soldaten wuchs indessen der Ärger über die Alldeutschen, denn diese mussten in dem Krieg, dessen Fortsetzung sie ständig forderten, oft nicht mitkämpfen. Dennoch blieb der Verband bis zuletzt von der Unabwendbarkeit eines deutschen Sieges überzeugt. Im November 1918 folgte das böse Erwachen.
2. Der Alldeutsche Verband nach 1918
2.1 Fundamentalopposition gegen die Weimarer Republik
Die deutsche Kriegsniederlage führte zu einer grundlegenden Desillusionierung des Verbands. Seine umfangreichen Expansionspläne für das Deutsche Reich lagen in Trümmern. Der Versailler Vertrag brachte im Gegenteil eine massive deutsche Abrüstung und große territoriale Verluste. Darunter befanden sich Gebiete wie Elsass-Lothringen, Oberschlesien, Nordschleswig und große Teile Westpreußens, die den Alldeutschen immer schon als bedeutende Regionen für ihren Kampf um das „Deutschtum“ gegolten hatten. Ihre ursprüngliche Kernforderung, das Streben nach einer großangelegten überseeischen Kolonialpolitik, wurde durch den Verlust sämtlicher deutscher Kolonien gar völlig ad absurdum geführt. Eine eventuelle Angliederung Österreichs an das Deutsche Reich war zwar durch den Untergang der Habsburgermonarchie nun theoretisch möglich, wurde jedoch von den Kriegsgegnern ebenfalls untersagt.
Auch innenpolitisch fiel die Bilanz für die Alldeutschen desaströs aus. Zwar hatten sie schon im Kaiserreich oft eine oppositionelle Position eingenommen. Die Einführung einer demokratischen Republik war ihnen jedoch so verhasst, dass sie nun offen für die Rückkehr der monarchischen Staatsform plädierten und die Weimarer Verfassung als „undeutsch“ ablehnten. Die Revolution und auch die nachfolgende Ausübung der Regierungsgewalt durch die gewählten Vertreter politischer Parteien betrachtete der Verband als fürchterliches Chaos. Er behauptete, dass die Parteien durch ihre Demokratisierung des Reiches und ihre angeblich zu nachgiebige Politik gegenüber den Kriegsgegnern die Niederlage verschuldet hätten. Der Alldeutsche Verband beteiligte sich so an der Verbreitung der Dolchstoßlegende. Bereits auf seiner Bamberger Tagung im Februar 1919 beschloss er zudem die Gründung des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, an dem sich auch Mitglieder des Reichshammerbundes und der Deutschvölkischen Partei beteiligten. Diese neue Organisation schrieb sich eine durchgreifende Propagierung des rassistischen Antisemitismus auf die Fahnen. Mit bis zu 180.000 Mitgliedern war sie größer als alle bisherigen antijüdischen Organisationen in Deutschland. Der Alldeutsche Verband selbst erreichte 1921 mit über 45.000 Mitgliedern seinen Höhepunkt.
All die tausendfältigen Nöte, die uns umdrängen, lassen sich in politischer Beziehung in dem einen Satz zusammenfassen: Wir Deutsche haben keinen Staat mehr.
Alldeutscher Verband: Grundzüge des völkischen Staatsgedankens, Berlin ca. 1924, S. 1.
Der Begriff „völkisch“ hatte bereits im Krieg eine zunehmende Rolle für die alldeutsche Propaganda gespielt. Nun forderte er einen grundsätzlichen Umbau des gesamten Staatswesens auf der Grundlage völkischer Kriterien. Der Hauptgeschäftsführer Leopold Baron Vietinghoff-Scheel plädierte in einer offiziellen Verbandsbroschüre erneut für ein abgestuftes Mehrstimmenwahlrecht. Dieses sollte nun aber nicht mehr nach dem Bildungsgrad unterschieden werden, sondern nach Rassenzugehörigkeit. Allerdings blieb auch Bildung für ihn ein wichtiges Thema. Darum machte er sich für eine „völkische Hochschule“ stark, die anhand von Rassenkriterien geeignete „Führer“ für das Volk auswählen und ausbilden sollte. Solche Forderungen waren zwar völlig unvereinbar mit den politischen Rahmenbedingungen der Weimarer Republik.
Dennoch gab es nach wie vor viele alldeutsche Würdenträger, die einen gewissen gesellschaftlichen und kulturellen Einfluss ausüben konnten. Dazu zählten der Generalsuperintendent der Rheinprovinz, Karl Klingemann, die Historiker Dietrich Schäfer und Georg von Below und vor allem der Medienunternehmer und DNVP-Politiker Alfred Hugenberg. Auch Frauen wurden nun zunehmend als Verbandsmitglieder akzeptiert, obwohl sie gegenüber alldeutschen Männern als von Natur aus ungleich galten. Dies hinderte die alldeutsche Autorin Hertha Schemmel allerdings nicht daran, in der Verbandszeitschrift zahlreiche rassentheoretische Artikel zu verfassen, die oft schärfer ausfielen als die ihrer männlichen Gesinnungsgenossen.
Wenn jedoch eins sicher erkennbar ist auf dem weiten Gebiete der Rassenforschung, so ist es das: daß das nordische Bluterbe das Einigende für uns alle ist, und daß eine völkische Zukunft für uns nur möglich ist, wenn wir ohne falschem (sic!) Optimismus seine Gefährdung erkennen und mit Einsatz aller Kraft um seine Erhaltung und Wiedererstarkung kämpfen.
Hertha Schemmel: „Die Rassenwissenschaft ist erledigt“ (Schluß). In: Alldeutsche Blätter 39. Jg. (12. Oktober 1929), Nr. 21, S. 168f. Hier S. 169.
Politisch stand der Verband zunächst dennoch weitgehend ohne Verbündete da, weil er sich mit seiner eindeutigen Ablehnung der Republik von den meisten Weimarer Parteien isolierte. Selbst die nationalkonservative DNVP beteiligte sich an einigen Regierungen und verstieß damit phasenweise gegen alldeutsche Vorstellungen. Dennoch forderte der Verband standhaft die Abschaffung der Republik und ihre Überwindung durch eine nationalistische Diktatur. Neben seiner Publizistik verfolgte er dabei verschiedene weitere Strategien. Sein Verhältnis zu gewaltsamen Methoden gestaltete sich dabei allerdings schwierig. So sah Claß den Kapp-Putsch von 1920 als dilettantisches Unternehmen, obwohl einige Alldeutsche sich auch hieran beteiligten. Auch Claß stand jedoch in den folgenden Jahren mehrfach vor Gericht, da er mit Putschplänen in Verbindung gebracht wurde, unter anderem im Kontext des Thormann-Grandel-Prozesses 1924. Im Mai 1926 wurde er sogar wegen Hochverrats angeklagt.
Um solchen Ärger zu vermeiden, versuchte der Verband gerade ab Mitte der 1920er Jahre, die von ihm angestrebte Diktatur auf legalem Wege zu verwirklichen. Die Gelegenheit hierzu erschien günstig, nachdem der vermeintliche Weltkriegsheld Paul von Hindenburg im April 1925 zum Reichspräsidenten gewählt worden war. Über Mittelsmänner wie den Industriellen Emil Kirdorf versuchte Claß mehrfach, Alfred Hugenberg als Kandidat für das Amt des Reichskanzlers ins Gespräch zu bringen. Allerdings musste er feststellen, dass sein politischer Einfluss auf Hindenburg sich eher in Grenzen hielt, denn all seine Versuche scheiterten. In seiner markanten Mischung aus Populismus und Autoritarismus polemisierte der Verband dennoch weiterhin gegen Deutschlands Mitgliedschaft im Völkerbund, den Dawes-Plan, die Anerkennung der deutschen Westgrenze in den Locarno-Verträgen und überhaupt gegen die auf friedlichen Ausgleich mit den Kriegsgegnern abzielende Politik des ehemaligen Alldeutschen und jetzigen Außenministers Gustav Stresemann.
Da Stresemanns DVP sich trotz anfänglicher Vorbehalte allmählich mit der Republik arrangierte, kehrte der Alldeutsche Verband den Nationalliberalen zunehmend den Rücken. Umso mehr stellte sich für ihn die Frage nach neuen Verbündeten. Zwar ließ er der NSDAP in den frühen 1920er Jahren wiederholt finanzielle Unterstützung zukommen. Denn mit Hitlers Hilfe hoffte der Verband darauf, Arbeiter und Handwerker für die nationalistische Sache zu gewinnen. Allerdings ließ der „Führer“ der Nationalsozialisten sich niemals vor den alldeutschen Karren spannen, sondern beharrte immer wieder auf der Unabhängigkeit seiner eigenen Bewegung. Angesichts der überwiegend ablehnenden Haltung der Alldeutschen während des Hitler-Ludendorff-Putschs im November 1923 und des darauffolgenden Prozesses brachen die Verbindungen zwischen beiden Organisationen in der nächsten fünf Jahren weitgehend ab. Die meisten Alldeutschen neigten vielmehr der DNVP zu, da Claß Hitler als einen halbgebildeten und demagogischen Emporkömmling betrachtete. Der Vorsitzende der NSDAP betrieb in seinen Augen lediglich Politik für die Massen und entsprach den alldeutschen Vorstellungen einer Geheimdiplomatie in Hinterzimmern nicht. Die personellen und ideologischen Beziehungen zwischen Alldeutschen und DNVP verfestigten sich noch weiter, als Hugenberg im Oktober 1928 den Vorsitz der Deutschnationalen übernahm. Denn nun konnte er sämtliche missliebigen Mitglieder aus dem Parteivorstand drängen. Der vermeintlich „überparteiliche“ Verband verfügte damit erstmals über eine Partei, auf die er sich verlassen konnte.
Dennoch ergab sich 1929 eine Zusammenarbeit zwischen Alldeutschen, DNVP und NSDAP, als diese gemeinsam mit weiteren radikalnationalistischen Gruppierungen das erfolglose Volksbegehren gegen den Young-Plan initiierten. Die Weltwirtschaftskrise brachte zudem einen enormen Stimmenzuwachs der radikalen Rechten insgesamt. Allerdings geriet der Alldeutsche Verband aufgrund seines eher elitären Charakters und seiner geringen Massentauglichkeit nun zunehmend in den Hintergrund. Am 11. Oktober 1931 traten die Spannungen offen zutage. Im niedersächsischen Bad Harzburg versammelten sich Alldeutsche, Nationalsozialisten, Deutschnationale und Mitglieder des Stahlhelms zu einer Tagung, um sich auf ein gemeinsames Vorgehen im Kampf gegen die Republik zu einigen.
Hitler erschien wie üblich mit deutlicher Verspätung und machte generell allen Anwesenden klar, dass er sich für die zentrale Figur der „nationalen Opposition“ hielt. Daraufhin wurde die alldeutsche Haltung gegenüber der NSDAP immer ungünstiger. 1932 ging der Verband schließlich so weit, seine Mitglieder eindeutig zur Wahl der DNVP aufzurufen. Darüber hinaus unterstützte er die autoritäre und ständestaatlich orientierte Regierung des Reichskanzlers Franz von Papen. Mit seinen Versuchen, einen radikalnationalistischen deutschen Staat jenseits der NSDAP-Vorstellungen zu verwirklichen, blieb er jedoch erfolglos. Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 begann die Uhr des Alldeutschen Verbandes abzulaufen.
2.2 Der Alldeutsche Verband im Dritten Reich
Die Bildung eines Kabinetts der „nationalen Konzentration“, an der sowohl NSDAP als auch DNVP beteiligt waren, sorgte im Alldeutschen Verband durchaus für ein zwiespältiges Echo. So sehr die Alldeutschen von der Notwendigkeit einer stramm nationalistischen Regierung überzeugt waren, hofften sie doch darauf, dass die Nationalsozialisten nicht dauerhaft die Hauptrolle spielen, sondern von den Deutschnationalen allmählich an den Rand gedrängt würden. Damit teilten sie die Hoffnungen zahlreicher deutscher Konservativer und auch der DNVP selbst. Einige Alldeutsche wie Claß blieben hingegen skeptischer und standen einer Zusammenarbeit mit der demagogisch angehauchten NSDAP weiterhin argwöhnisch gegenüber.
Dennoch waren die Übereinstimmungen so groß, dass der Verband sich mit den zentralen politischen Maßnahmen der folgenden Monate problemlos identifizieren konnte. Zur Entmachtung des Reichstags durch das Ermächtigungsgesetz äußerte er sich ebenso positiv wie zur schrittweisen Ausschaltung oder Selbstauflösung der Parteien, da diese in seinen Augen immer schon die Einheit des deutschen Volks gefährdet hatten. Die Selbstauflösung der DNVP im Juni 1933 deutete zwar erstmals darauf hin, dass sich die neuen politischen Bedingungen auch zum Nachteil der Alldeutschen auswirken könnten. Trotzdem übten sie auch an diesem Schritt keine grundsätzliche Kritik, sondern solidarisierten sich erstaunlich schnell mit den neuen Machthabern. Auch in den folgenden Jahren lobten sie alle zentralen Aktionen der NS-Regierung: vom Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund über die Nürnberger Rassengesetze und die Remilitarisierung des Rheinlands bis hin zum „Anschluss“ Österreichs. Selbst Claß stellte seine ursprünglichen Bedenken nun zurück und saß bis 1945 als Gast der NSDAP im Reichstag. Da dieser allerdings politisch mittlerweile völlig bedeutungslos war, gingen die Nationalsozialisten hiermit kein ernsthaftes Risiko ein. Indem die NS-Führung den AV auf diese Weise ruhigstellte und teilweise in ihren neuen Staat integrierte, vermied sie womöglich sogar einen Aufschrei im konservativen Lager.
Hinter den Kulissen ging es indessen längst nicht so harmonisch zu. Zwar war der Alldeutsche Verband keine Partei und somit von der Gleichschaltung des Parteiwesens nicht unmittelbar betroffen. Dennoch misstrauten viele NS-Funktionäre ihm weiterhin. Sie warfen dem Verband vor, in seinem immer kleiner werdenden Mitgliederkreis individualistische und liberal-bürgerliche Einstellungen aufrecht zu erhalten. Der elitäre Eigencharakter des Verbands drohte der nationalsozialistischen Fiktion einer „Volksgemeinschaft“ zuwiderzulaufen. In der Tat erschienen die Alldeutschen Blätter weiterhin völlig autonom, während Claß versuchte, seine alten Schriften wie das Kaiserbuch und seine Deutsche Geschichte zu vermarkten. Erst Anfang 1935 strich der Verband die Forderung nach einer Wiedereinführung der Monarchie aus seiner Satzung. Die Gestapo belauschte immer wieder alldeutsche Ortsgruppentreffen und ereiferte sich über fehlende Hakenkreuzfahnen sowie nicht gezeigte Hitlergrüße.
Nach einem mehrmonatigen Verfahren ordnete Reinhard Heydrich als Leiter des SS-Sicherheitsdienstes am 13. März 1939 die Auflösung des Verbands an. Die Organisation der Alldeutschen zeige einerseits staatsfeindliche Tendenzen und werde andererseits nicht mehr benötigt. Denn ihr wichtigstes Ziel, der „Anschluss“ Österreichs und des Sudetenlandes seien schließlich ohnehin erfüllt. Damit reduzierte Heydrich das umfassende und weit gespannte Programm des Verbands einseitig auf jene großdeutschen Ziele, die das NS-Regime bislang erfolgreich umgesetzt hatte. Die letzten Vertreter der alten „nationalen Opposition“ aus dem Kaiserreich erklärte er zu Relikten einer überholten Ära. Die meisten Alldeutschen fügten sich in dieses Schicksal, ohne in den Folgejahren politisch noch weiter aufzufallen. Nur einige wenige Mitglieder wurden wegen angeblich staatsfeindlicher Aktivitäten verhaftet. Auch nach 1945 gab es kaum noch Alldeutsche, die in der neu entstehenden Bundesrepublik eine Rolle spielten, zumal die meisten ihrer prominenten Vertreter bereits über 70, wenn nicht sogar schon über 80 Jahre alt waren. Der Alldeutsche Verband wurde somit selbst zum Opfer der nationalistischen Diktatur, die er jahrzehntelang gefordert hatte.
3. Ein Vorreiter des radikalen Nationalismus in Deutschland?
Meine Freunde haben auch darin Recht, daß es heute, wo die nationale Opposition den Durchbruch zur Macht zu erzwingen scheint, angezeigt ist, darzutun, wie schwer und lang der Weg derer war, die Urheber und erste Vorkämpfer dieser politischen Bewegung gewesen sind.
Heinrich Claß: Wider den Strom. Vom Werden und Wachsen der nationalen Opposition im alten Reich, Leipzig 1932, S. vii.
Der Alldeutsche Verband entwickelte als erste politische Organisation ein Programm, um das Deutsche Reich anhand kultureller, sprachlicher, ethnischer und rassenbiologischer Vorstellungen grundlegend neu zu ordnen. Die Deutschen sollten zu einem sozialdarwinistisch aufgefassten Überlebenskampf gegen andere Staaten und Völker befähigt werden. Darin unterschied sich der Verband wesentlich von den meisten Regierungen und Parteien des Kaiserreichs sowie der Weimarer Republik. Zwar wurden kolonial- und rüstungspolitische Forderungen im Kaiserreich von vielen Gruppen in Politik und Zivilgesellschaft erhoben. Auch der Versailler Vertrag wurde nach 1918 von fast allen deutschen Parteien und den meisten Bewohnern der Weimarer Republik abgelehnt. Jedoch nahm der Alldeutsche Verband lange Zeit eine Ausnahmestellung ein, indem er all diese Punkte kompromisslos auf die Spitze trieb. Er verdichtete sie zu einem Weltbild, das den Dienst an der deutschen Nation und am deutschen Volk zunächst zum einzigen Prinzip, später sogar zu einer Art Ersatzreligion erhob. Darum versuchte er ab 1930 und sogar nach 1933, sich als Vorreiter der gesamten „nationalen Opposition“ in Deutschland darzustellen. Vor allem die Nationalsozialisten seien ihm für seine mutigen Vorleistungen zu grenzenlosem Dank verpflichtet.
Zweifellos propagierte der Alldeutsche Verband zahlreiche Punkte, die sich mit dem Programm der NSDAP überschnitten: Dazu gehörten die alldeutschen Expansionspläne in Europa, die Darstellung des Ersten Weltkriegs als rassenpolitischer Vernichtungskrieg und die schroffe Ablehnung der Demokratie. Die Forderung nach einer Wiedereinführung der Monarchie und die massiven kolonialen Forderungen außerhalb Europas gehörten hingegen nicht dazu. Ersteres wurde von der NSDAP offen abgelehnt, letzteres zählte zumindest nicht zu ihren zentralen Forderungen. Auch der Antisemitismus der Alldeutschen nahm zwar besonders nach dem Ersten Weltkrieg deutlich zu. Gleichzeitig bemühte sich der Verband jedoch darum, dieses Betätigungsfeld an den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund zu delegieren, da er die Juden lediglich als einen Feind unter vielen ansah.
Für die Nationalsozialisten war der Antisemitismus hingegen von Anfang an so bedeutsam, dass sie das deutsche Volk fast durchweg in Abgrenzung zum sogenannten „Weltjudentum“ definierten. Nationalismus und Antisemitismus waren für sie annähernd gleichbedeutend. Tatsächlich sah die NSDAP es sogar als Segen für die ganze Menschheit an, dass sie sich darum bemühte, die europäischen Juden zu bekämpfen und schließlich auszulöschen. Eine derartige Mission von vermeintlich internationalem Interesse hätte wohl jenseits der eher traditionellen, deutsch-nationalen Vorstellungen der Alldeutschen gelegen. Denn selbst die Unterstützung einer gemeinsamen Intervention der europäischen Kolonialmächte in China während des „Boxer-Aufstandes“ war eher eine Ausnahmeerscheinung in der deutschzentrierten Verbandspropaganda gewesen. Auch die paramilitärische Gewalt der SA deckte sich nicht mit alldeutschen Methoden, da diese fast ausschließlich mithilfe von Zeitschriftenartikeln und anderen schriftlichen Traktaten „kämpften“. Zu berücksichtigen ist auch, dass es mit der Action Francaise oder der Associazione Nazionalista Italiana schon vor dem Krieg Gruppierungen in anderen europäischen Ländern gab, die dem Alldeutschen Verband nicht unähnlich waren.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Ideen des Alldeutschen Verbandes ihre Relevanz für die deutsche Geschichte eingebüßt hätten. Zwar hat (zumindest bislang) keine neofaschistische oder neonazistische Gruppe nach 1945 offen an alldeutsches Gedankengut angeknüpft oder sich direkt auf den Verband berufen. Allerdings sind viele typisch alldeutsche Eigenschaften für heutige Gruppierungen aus dem Spektrum der „Neuen“ Rechten ungebrochen attraktiv: eine eher bildungsbürgerliche, elitäre und oft reaktionäre Selbstdarstellung, ein mythisch überhöhter Bismarckkult, eine Sehnsucht nach der Epoche des deutschen Kaiserreichs und eine zunehmende Vermischung sozialdarwinistischer und kultureller Argumente. Die indirekte Vorreiterrolle des Verbandes für den radikalen Nationalismus in Deutschland hat also offenbar noch kein Ende gefunden.
Niels Tim Dickhaut studierte Geschichte und Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 2021 ist er dort in der Lehre tätig und arbeitet an seiner Promotion. Seine thematischen Schwerpunkte liegen im Bereich der Nationalismusforschung, der politischen Ideengeschichte und der Pressegeschichte.
Literatur und Auswahlbibliographie
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- Jungcurt, Uta: Alldeutscher Extremismus in der Weimarer Republik. Denken und Handeln einer einflussreichen bürgerlichen Minderheit, Berlin/Boston 2016.
- Leicht, Johannes: Heinrich Claß 1868-1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen, Paderborn/München/Wien u.a. 2012.
- Walkenhorst, Peter: Nation-Volk-Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914, Göttingen 2007.