Mein Opa, das Meer und ich: Totenschiffe und Sehnsuchtsorte

Schlaglichter maritimer Geschichte in einem neuen Buch- Von Malte Bastian

Musterte 1923 mit 16 Jahren als Schiffsjunge an: Werner Bastian. Er brachte von See viele Bilder mit, die in dem Buch MEIN OPA, DAS MEER UND ICH jetzt veröffentlicht worden sind. Foto: Sammlung Bastian

Blaues Meer und lockende Ferne: An literarischen Seefahrerlegenden haben viele Autoren gestrickt. Bis heute hat sich der Mythos des wettergegerbten Sailors gehalten – auch im Zeitalter der Kreuzfahrten wird mit diesen historischen Stereotypen gearbeitet. Während das Leben der Menschen an Land in vielen Facetten erforscht ist, bleiben auf See weiße Flecken. Wie war es an Bord vor 150 oder 100 Jahren? Wer wie ich einen Großvater hatte, der kurz nach dem Ersten Weltkrieg zur See fuhr, konnte aus erster Hand erfahren, wie es zuging. Daraus ist jetzt ein Buch entstanden – MEIN OPA, DAS MEER UND ICH. Ein Geschichts- und Geschichtenbuch, das auch die Menschen zeigt, denn mein Großvater Werner Bastian hatte etwas dabei, was die wenigsten Seeleute damals besaßen: Einen Fotoapparat.

Von den einfachen Männern, die vor 100 Jahren bei Wind und Wetter arbeiteten, bei über 50 Grad Raumtemperatur stundenlang Kohlen in Kesselanlagen schaufelten oder unter Lebensgefahr bei Minusgraden in vielen Metern Höhe Segel bargen, schrieben Autoren selten und machten Journalisten kaum Bilder. Millionen Menschen kennen die berühmten reichen Passagiere der TITANIC, doch die Heizer, Matrosen und Stewards, die auf dem Dampfer fuhren, sind ihnen unbekannt. Die Welt der Kapitäne auf der Kommandobrücke scheint bis heute interessanter, als das Leben im Mannschaftslogis, wo in nördlichen Breiten eisige Kälte herrschte und bei Fahrten in den Süden unerträgliche Hitze.

Dabei war das einfache Leben an Bord spektakulär genug – und nicht nur die hygienischen Bedingungen waren oft äußerst abenteuerlich. Einen kleinen Eindruck hatte ich schon als Junge aus den Erzählungen meines Großvaters Werner Bastian bekommen. Er heuerte erstmal am 10. Januar 1923 an und ging vom pommerschen Kolberg (heute Kolobrzeg) mit dem Segelschiff GLORIVE in See – für eine monatliche Heuer von 5.000 Mark. Klingt viel, war es aber nicht: Die Inflation hatte Deutschland im Griff, das Geld hatte den Gegenwert von etwa zwei Dollar. Als Werner zurückkam, war die Heuer trotz Anpassung an die Inflation praktisch wertlos geworden. Das Geld wurde übrigens, so erinnerte er sich, in riesigen Banknotenbündeln direkt nach dem Anlegen im Hafen von Lastwagen geholt verteilt.

Deutschlands größter Hafen um 1920: Hamburg, hier die Landungsbrücken von St. Pauli mit dem Michel, der Michaeliskirche, im Hintergrund. Hier war die einst größte Reederei der Welt, die Hamburg Amerikanische Paketfahrt AG, kurz HAPAG, beheimatet.

Mein Großvater Werner Bastian gehörte zu einer Berufsgruppe, deren Ruf ebenso von Legenden, wie von Vorurteilen geprägt war. Der Topos vom trinkenden, unzuverlässigen Seemann, der in jedem Hafen eine Braut hatte, stand in scharfem Kontrast zur politischen Bedeutung einer Berufsgruppe, die für eine funktionierende Weltwirtschaft in Sachen Waren- und Personenlogistik seit der Antike unverzichtbar war – und mindestens so ausgebeutet wurde, wie die Fabrikarbeiter des industriellen Zeitalters. Das begann bereits, wenn jemand vor 150 Jahren anheuern wollte. Die Arbeitsvermittlung lag in den Händen eines sogenannten Heuerbaases, der damals als eine Art Makler zwischen Kapitänen und den Seeleuten fungierte – und leider oft genug ein Halsabschneider war.

Seeleute als Opfer krimineller Machenschaften

Doch damit nicht genug: Da die wenigsten Seeleute an Land irgendeine feste Unterkunft hatten, nächtigten sie oft in Pensionen, die ein sogenannter Schlafbaas betrieb – und auch der war nicht immer der ehrlichste. Besonders fatal aber wurde es, wenn abgebrühte Heuer- und Schlafbaase zusammen arbeiteten. Der Heuerbaas ließ sich Zeit mit der Vermittlung, damit der Schlafbaas den Seemann ordentlich schröpfen konnte. War der Seemann dann in Panik, überhaupt keine Heuer mehr zu bekommen, lieh er sich Geld, verkaufte seine wenigen Habseligkeiten oder versprach dem Heuerbaas den Vorschuss der nächsten Passage. War der Mann an Bord, teilten sich die Gauner an Land die Beute. Erst das Stellenvermittlergesetz von 1910 mit einem Verbot, irgendeine andere Tätigkeit als die Vermittlung auszuüben, brachte Besserung.

Silvester auf See: Die Freiwache eines Dampfers stellt sich 1927 der Kamera. Ein halbes Glas Bier pro Person ist gerade noch zulässig – wer heimlich mehr trank, riskierte seinen Job und auch strafrechtliche Verfolgung.

Wer mehr oder weniger glimpflich den Baasen aufs Schiff entkommen war, musste sich jetzt mit seinen neuen Arbeitskollegen auseinandersetzen. Bei einer Salpeterfahrt nach Chile oder einen Weizentörn nach Australien galt es, mit diesen Kameraden monatelang auf engstem Raum zu leben. Wer empfindlich auf Stress, grobe Witze oder Körperausdünstungen reagierte, musste sich darauf gefasst machen, schnell als komischer Einzelgänger zu gelten. Gerade in Krisensituationen, wo jeder auf den anderen angewiesen war, keine angenehme Position. Doch im Allgemeinen arrangierten sich die Seeleute mit fast allen Umständen und den kleineren Übeln: Was war schon ein Kojennachbar mit gelegentlichen Blähungen gegen einen solchen mit Läusen oder Krätze?

Harte Arbeit, hartes Brot: Erste Klasse gab`s nur für Offiziere

Zu diesen Umständen gehörte nicht nur die Unterbringung. Auch die Arbeitszeiten waren hart. Die Seemannsordnung von 1902 verpflichtete den Fahrensmann „zu jeder Zeit alle für Schiff und Ladung ihm übertragenen Arbeiten zu verrichten.“ Schiffsbetrieb ist Schichtdienst rund um die Uhr und sollte eigentlich so funktionieren, dass sowohl auf See, als auch im Hafen oder auf Rede so viele Leute für die Wachen eingeteilt werden, wie man für genau diesen Betrieb braucht. Doch in der Praxis gab es oft Reibereien. Die Reeder heuerten oft nur minimale Personalstärke an um Geld zu sparen, hinzu kamen immer wieder Seeleute, die sich in den angelaufenen Häfen heimlich von Bord machten um sich eine bessere Stelle oder bessere Vorgesetzte zu suchen.

Diese Personalnot führte oft zu Doppelwachen und Zusatzdiensten und mit Sicherheit in früheren Zeiten auch zu mancher Kollision: wenn nämlich der Rudergänger – ähnlich wie heute überlastete Fernfahrer – in einen tödlichen Schlaf verfiel. Offiziell wurde zwar um die Jahrhundertwende auch in der Seefahrt der Acht-Stundentag eingeführt (wobei natürlich der Samstag als Werktag galt), doch schwere See und „Alle-Mann-Manöver“ sorgten dafür, dass es in der Praxis selten geregelte Arbeitszeiten gab.

Das alles, erinnerte sich mein Großvater Werner Bastian, der als Jungmann, später als Vollmatrose ab 1923 zuerst auf Segelschiffen, später dann auf Dampfern fuhr, wäre ja noch erträglich gewesen, wenn das Essen wenigstens etwas getaugt hätte. Natürlich hing das leibliche Wohl maßgeblich vom Smut, dem Koch, ab. Doch selbst die größten Kochkünste konnten nicht über karge und im wahrsten Sinne des Wortes geschmacklose Kost hinwegtäuschen. Vor allen Dingen bei langen Fahrten wurde der Speiseplan immer enttäuschender, waren doch alle frischen Lebensmittel längst aufgebraucht. Selten gab es richtige Kühlräume an Bord der älteren Segelschiffe, alles wurde unter Deck verstaut. Frischer Fisch und frisches Fleisch waren bei Fahrten in wärmere Gefilde meist nach einer Woche verbraucht oder fingen an zu faulen, normales Brot war zwei Wochen später knüppelhart oder verschimmelt, das Gemüse ebenfalls. Was jetzt blieb, waren Dauerwaren. Bei langen Fahrten bestand der Speiseplan aus eintönigen Gerichten, die mit Salzfleisch, Stockfisch, Erbsen, Bohnen, Linsen, Graupen, Zwieback und Tubenmargarine bereitet wurden.

Verbrüht, zerquetscht, verunglückt: Lebensgefährliche Arbeitsplätze auf hoher See

Aber nicht nur die Ernährungslage war brisant. Auf den kleinen Schiffen, erst recht auf Seglern, waren Krankheiten gefürchtet. Noch bis zum Zweiten Weltkrieg war hier die Versorgung mangelhaft. Medikamente verabreichten der Kapitän oder ein Offizier. Bei Unfällen ausgekugelte Gelenke wurden ohne Betäubung eingerenkt, Knochenbrüche mit Latten, die der Schiffszimmermann anfertigte, geschient. Auf Seglern litten die Männer unter Rheuma durch das tagelange Tragen von nasser Kleidung, auf den Dampfern die Heizer unter Furunkeln, die sich durch Schweiß und Dreck bildeten. Gegen Rheuma konnte man wenig tun, Furunkeln widmete sich gelegentlich der Kapitän mit Skalpell und Jod. Auch Erfrierungen, die auf Seglern in kalten Gefilden auftauchten, mussten behandelt werden – im schlimmsten Falle musste der Schiffsführer mit der Knochensäge umgehen können, um Gliedmaßen zu amputieren.

Jod, Aspirin und Morphium gehörten jahrzehntelang zu den wichtigsten Medikamenten in der Bordapotheke. Kein Wunder: Die Verletzungen an Bord eines Schiffes konnten so furchtbar sein, dass Morphium dann tatsächlich oft das erste Mittel der Wahl war. Offene Knochenbrüche beim Sturz aus der Takelage, übel verbrühte und verbrannte Gesichter oder Oberkörper durch defekte Dampfventile, massive Quetschungen durch Winden oder auch herabstürzende Ladung – die Liste der Verletzungen war lang, denn im Gegensatz zu Betrieben an Land war die Überwachung des Arbeitsschutzes kompliziert und kaum durchführbar.

Nicht alle Probleme ließen sich wie entzündete oder kariöse Zähne einfach mit der Zange aus der Bordapotheke beheben – wenn denn wenigstens eine vorhanden war: Noch 1958 heißt es im Standardwerk Gesundheitspflege auf Kauffahrteischiffen mahnend: „Eine Zahnextraktion gelingt nur mit Spezialinstrumenten. Es bleibt zu hoffen, dass allmählich sämtliche Schiffe auf großer Fahrt zusätzlich mit wenigstens einer Zahnzange (Universalzange) ausgerüstet werden.“

Mindestens so ansteckend wie Läuse und Infektionskrankheiten aber waren Stress und schlechte Laune. Die Schiffsleitung achtete streng darauf, dass aus Disharmonien über schlechte Verpflegung oder langen Dienstzeiten keine Unruhen wurden. Hin und wieder Sonderrationen an Alkohol oder kleine Bordfeste sollten die Stimmung heben. Auch Spielen stand ebenso hoch im Kurs, wie Bastelarbeiten mit den banalsten Materialien. Manche Matrosen schnitzten aus alten Suppenknochen ganze Schiffe. Beliebte Spiele waren Sackhüpfen, Seilklettern oder auch das „Schinkenkloppen“: Bei diesem nicht besonders geistreichem Spiel musste ein Matrose, dem die Augen verbunden wurden, raten, wer aus der Crew ihm auf den Hintern geschlagen hatte. Erriet er den Schläger, wurden die Rollen gewechselt, ansonsten gab es den nächsten Schlag. Auch Kraftspiele wie Armdrücken waren vor allen Dingen bei jungen Leuten beliebt.

Schinkenkloppen, Sackhüpfen – viele dieser Freizeit-beschäftigungen muten heute im Zeitalter von Online-Gaming und Facebook kindisch an. Lasen Seeleute denn nie? Schrieben sie keine Tagebücher? Tatsächlich wurde mehr geschrieben, als man vielleicht heute annehmen sollte, obwohl die wenigsten der einfachen Seeleute über irgendeine Form höherer Bildung verfügten. Der Autor und frühere Seemann Jürgen Rath zitiert etwa in seinem Buch Schiffszwieback, Pökelfleisch und Koje immer wieder Tagebuchnotizen. Die Seemannsmission und die Kirchen sorgten außerdem dafür, dass Lektüre an Bord kam, wenn auch häufig eher „erbauliche“ als denn unterhaltende Literatur. Immerhin verfügten die meisten größeren Dampfer um die Wende zum 20. Jahrhundert über eine kleine Bordbücherei.

Wo heute riesige Containerschiffe fahren, sahen vor 100 Jahren die Schiffe noch ganz anders aus: Der HAPAG-Dampfer RUGIA, eingesetzt im Dienst nach Mittelamerika. Foto: Sammlung Bastian

Das Wichtigste aber waren für die Menschen damals wie heute Gespräche. In der Enge des Logis wurde über Frauen getratscht, sich über Heimweh ausgetauscht, über das Essen gemeckert und über Vorgesetzte geflucht und oft genug auch davon geträumt, abzumustern und eine „anständige“ Existenz an Land zu führen. Und Letzteres haben viele Seeleute in die Tat umgesetzt. Nach zehn, 15 oder 20 Jahren auf See hatten die meisten genug. Sie musterten ab – wie mein Großvater Werner Bastian. Als der HAPAG-Dampfer RUGIA im Februar 1932 wegen der Weltwirtschaftskrise aufgelegt, also aus dem Betrieb genommen werden musste, beschloss er, den Beruf an den Nagel zu hängen.

Was mein Großvater allerdings noch Jahrzehnte später hervorragend konnte, war es, das Interesse des Enkels an allem zu wecken, was mit der Seefahrt im Allgemeinen und im Besonderen zu tun hatte, egal, ob Handels- oder Kriegsmarine. Von den Fahrten der Entdecker bis zum Untergang der TITANIC, von den Schnelldampfern bis hin zu den Trampschiffen und den Seelenverkäufern wie der YORRICKE, dem literarischen Totenschiff des sagenumwitterten Schriftstellers B. Traven, 1926 erschienen. Traven, dessen Identität über Jahrzehnte unbekannt war, schrieb in seinem packenden Roman Das Totenschiff in einem ironisch-lapidaren Ton über die furchtbaren Arbeitsbedingungen auf Schiffen und schuf damit ein Stück zeitgenössischer See-Literatur, das nicht aus dem Blickwinkel der Offiziere erzählt wurde. In millionenfacher Auflage gedruckt, weckte das Buch alles andere als Sehnsucht nach dem Meer. Der Autor wusste offenbar, wovon er schrieb – er fuhr höchst wahrscheinlich in den 1920er Jahren selbst zur See. Heute gilt es als wahrscheinlich, dass Traven vermutlich der Metallarbeiter Otto Feige aus Pommern war, der erst den exotischen Künstlernamen Ret Marut und später B. Traven trug. Aber wer auch immer Traven gewesen sein mag: Sein Totenschiff  liest sich immer noch gut und bleibt eine Anklage gegen Ausbeutung und furchtbare Arbeitszustände, nicht nur auf Schiffen aber besonders dort. Seeleute waren eben über lange Jahrzehnte das, was Militärs zynisch als „Menschenmaterial“ bezeichneten. Und noch heute verklären moderne Filme wie Master and Commander (2003) mit Russel Crowe brutale Sitten an Bord und den grausamen Seekrieg und bedienen sich der Erzählweise aus Sicht der Offiziere während die einfachen Matrosen keine Rolle spielen.

Dabei gibt es große Literatur jenseits der Master and Comander: Der US-Amerikaner Jack London erzählte in seinem Roman The Sea-Wolf (dt. Der Seewolf) 1904 eine Parabel auf das Leben von Landratten und eben jenen Seewölfen: Der schöngeistige Humphrey van Weiden kommt nach dem Untergang einer Fähre an Bord des Schoners GHOST und wird dort mit dem harten und unmenschlichen Regime des Kapitäns Larsen konfrontiert. So wie Traven, wusste auch London, wovon er schrieb. Ein hartes Leben hatte der 1872 in San Francisco geborene Schriftsteller hinter sich, als er den Seewolf schrieb. Er war Zeitungsjunge, Kellner, Fabrikarbeiter und Reporter gewesen, hatte unglaubliches Elend gesehen und beschrieben.

Und so sind nicht nur die Erinnerungen meines Großvaters Werner Bastian, sondern viele Geschichten über das Meer, Schiffe und Seeleute auch immer Geschichten über Abenteuer, Politik und Sehnsucht. Für uns als Landratten sind sie mit dem Vorteil verbunden, alles miterleben aber nicht miterleiden zu müssen. Ich konnte mich als Junge zurücklehnen und einfach den Erlebnissen meines Großvaters zuhören. Mein Opa, das Meer und ich: Das war ein Dreiklang, der mich als Schüler faszinierte und zu diesem Buch inspirierte. Verzweifelte SOS-Rufe, der gnadenlose U-Bootkrieg und tragische Schiffskatastrophen aber auch revolutionäre Matrosen, Jobvermittler in Hafenspelunken und Seenotretter holen eine Welt ins Leben zurück, die im wahrsten Sinne des Wortes längst versunken ist. Mit einer Fülle bisher unveröffentlichter Fotos bietet MEIN OPA, DAS MEER UND ICH nicht nur Landratten einen ganz neuen Blickwinkel auf Fahrensleute, ihre Schiffe und die alles andere als immer christliche Seefahrt.

Zum Weiterlesen:

Malte Bastian
MEIN OPA, DAS MEER UND ICH
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
236 Seiten, 120 Abbildungen
ISBN-13: 9783753439570
22,90 Euro/als E-Book 9,99