Nach zweistündiger Fahrt hinaus aus der Stadt, durch strömenden Regen, Dörfer und Rapsfelder – gerade als ich dachte, weiter ins Nirgendwo können wir nicht mehr fahren – stand plötzlich eine kleine Person in weitem Kleid und braunem Kapuzenmantel am Wegesrand. Irritiert und fasziniert zugleich starrte ich sie an, bis ich nah genug kam um festzustellen, dass Dorothea Fischer – Mitglied des historischen Darstellungsvereins München – dort am Hang wartete, um mich in das Civil War Lager des Regiments Harper´s Ferry zu führen. Denn diese wollten die Vereinsmitglieder der amerikanischen Bürgerkriegstruppe an diesem Wochenende darstellen.
Wie Geschichte gelebt wird… Eine historische Reportage von Elina Messfeldt.
Natürlich nicht ohne – für 1860er Jahre, in Nordamerika zu Zeiten des Bürgerkriegs – angemessene Kleidung, denn ich sollte die Darstellung nicht durch zeitgenössisches Auftreten stören. Schon zwei Wochen zuvor hatten wir uns für dieses Ereignis zu einer Anprobe getroffen; bereits dort wurde mir klar: Authentizität wird hier großgeschrieben.
Die Fülle an Details auf die man dabei zu achten hat ist, immens und wäre ohne eine historische Beschäftigung mit der jeweiligen Zeit unmöglich! Hutmoden, vorhandene Lebensmittel, Textilbestände, Schicklichkeitsgebote, zur Verfügung stehendes Nähwerkzeuge, alles muss mit einbezogen werden wenn man es richtig machen will. Zu meiner Ausstattung gehörten ein paar zu schnürende Glattlederstiefel, dazu Wollsocken, ein bodenlanges Kleid mit Reifrock („loops“ genannt) sowie ein Leinenunterhemd. Zu den weiten Ärmeln ein paar „undersleeves“, außerdem ein Seidenhäubchen und für die wenigen Dinge die ich dort brauchen würde ein kleiner Stoffbeutel.
Nach einem kurzen Waldspaziergang tauchte eine talähnliche Lichtung auf die wirkte als würde sie sagen: „Willkommen im Jahr 1861, in den Anfängen des amerikanischen Bürgerkrieges“. Es waren weder Häuser noch angelegte Wege noch Strommasten in Sicht. Man blickte auf vier weiße Zelte, mitten im nassen Gras und sah schon von weitem ein Dutzend Männer in Uniformen. Bei unserer Ankunft war der Himmel von Nass zu Hellgrau aufgeklart.
Der historische Darstellungsverein München – unterschiedlichste Menschen mehrerer Nationalitäten mit einer Leidenschaft: Gelebte Geschichte
Die tropfenfreien Stunden wurden sofort für eine Vorstellungsrunde genutzt. Im Jahre 1861 mögen sie alle Soldaten gewesen sein, aber 2016 sind sie: Briefträger, Polizist, Künstler, Archivar und noch vieles mehr. Sogar unterschiedliche Nationalitäten waren vertreten. Nelson zum Beispiel kommt aus den USA und Richard, der mir als Leutnant vorgestellt wurde, ist Brite. Dorothea und Andy mussten uns natürlich nicht mehr vorgestellt werden, denn die beiden kannte ich ja bereits von der Anprobe.
Plötzlich ertönte das Kommando: „Attention Company!“ Woraufhin alle Männer sich aufstellten. Sie bildeten zwei Reihen zu je 5-6 Personen, jeder von ihnen mit Munitionstaschen und Musketen ausgerüstet. Joseph, der Truppenmusiker, spielte auf einer kleinen Flöte eine Melodie und sie begannen ihre Übung. Dorothea neben mir flüsterte: „Das musst du dir anschauen, wie beim Ballett ist das, sie sind so stolz auf diese Übung“. Mitten im Exerzieren gab Richard, der Kommandant, den Befehl zum Auseinandertreten und Stillstehen.
Dann sah er auffordernd in meine Richtung und winkte mich zu sich. Anscheinend war es damals nicht unüblich, dass junge Damen aus der Stadt kamen, um das Regiment zu besichtigen. Ich lief die Reihen ab und durfte jede Frage stellen, die mir in den Sinn kam. Alle wurden geduldig beantwortet. So erfuhr ich etwa, dass die unterschiedlichen Uniformen mit ihren verschiedenen Farben zu Beginn des Krieges durch die verschiedenen Bürgerkompanien (Militia units) zustande gekommen waren. Fast jeder Ort hatte mindestens eine Milizeinheit und je nach Geldbeutel und Vorliebe waren diese Einheiten eingekleidet.
In Harper’s Ferry sammelten sich sämtliche Einheiten aus dieser Gegend und wurden dort zum Teil neu und praktikabler eingekleidet. Außerdem wurden sie in funktionsfähige, militärische Regimente eingeteilt und gedrillt. Von Harper’s Ferry aus marschierten sie dann in den Krieg. Das Exerzieren, dem ich gerade beiwohnen durfte, diente dabei als Übung für die Soldaten. Es kam im Civil War durchaus vor dass man tagelang nichts zu tun hatte. Um fit zu bleiben wurde immer wieder geübt, zu laden und zu schießen.
Auf meine Frage, wie oft so eine Frage wiederholt wurde, ertönte es der zweiten Reihe: „So oft wie Richard das will!“ und nur schlecht unterdrücktes Gelächter brach aus. Einer der Darsteller, Josua, zeigte mir anschließend wie man eine Muskete lädt: Er nahm dazu aus der kleinen Gürteltasche etwas Pulver und stopfte es in den Vorderlauf der Waffe. Direkt hinterher kam eine Kugel, die mit einem Metallstab reingedrückt wurde. Dazu erklärte Josua, dass die Schussweite einer Muskete meist 200m betrug. Die geringste Treffweite seien 50m, aber es gäbe auch Modelle die 900m erreichen.
Jona from the Whale/Jona from Virginia
Bevor es nun im Programm weiter ging, rief Richard: „ Now, one Hip Hurra for the Ladies!!“ „Hipphipp“ und die ganze Mannschaft brüllte: „HURRA!!!“. Drei Mal. Danach wurde wieder „geschossen“, die ganze Prozedur mit gerufenem „Boom“. Echte Munition wurde nicht abgefeuert. Der Himmel wurde nun wieder zunehmend dunkler und die Männer beeilten sie sich ihre Übung zu beenden, um noch vor dem großen Schauer einen Kaffee über der Feuerstelle zu kochen. Dazu wurde das Kaffeepulver direkt in den Metalltopf gekippt und ungefiltert im Wasser aufgekocht. Das dauerte eine halbe Ewigkeit…
Das Mittagessen in Form von Kartoffeln mit Schweinefleisch, das ebenfalls über dem Feuer gekocht wurde, verkürzte allerdings die Wartezeit. Genau wie kleine Missgeschicke, die uns in unseren heutigen Küchen wohl auch noch in ähnlicher Form passieren dürfte. Vorsichtig wollte einer der Darsteller seine – schon sehr schwarz gewordenen – Kartoffeln aus der Glut am Rande fischen und stieß dabei mit seinem Metallteller an die Kaffeekanne. Diese schwappte ein wenig über und erschreckte den Mann auf der anderen Seite des Feuers, der mit seinem Mittagessen zu tun hatte sodass es ihm geradewegs aus dem Teller in die Flammen fiel.
Ich wollte gerne mein Beileid aussprechen, aber dafür sah es zu komisch aus und ich konnte nur mit den anderen lachen. Nelson rief: „Oh look! Jona was here!“ und da lachten alle noch mehr. Außer mir, denn ich hatte nicht die geringste Ahnung wer Jona war. Hatte ich die Namen vorhin falsch mitbekommen? Oder war das ein weiteres Vereinsmitglied das heute nicht kommen konnte? Und wieso lachten sie darüber? Mein Fragender Blick war meinem Nachbarn irgendwann aufgefallen und er wollte gerade zur Erklärung ansetzten, da wurde er von Nelson unterbrochen:
„You know Jona from the bibel? Jona from the Whale?“ – „Of course!”
Ja, aber damit hat dieser Jona nichts zu tun! Er ist eine Kunstfigur aus dem Civil War. Es gibt da ein Buch mit mehreren Illustrationen. Und auf einer davon ist eine Feuerstelle zu sehen – genau wie diese hier – und dazu die Beschriftung: The fireplace before Jona. Darunter ist ein zweites Bild mit der Unterschrift – The fireplace after Jona. Und darauf ist alles zerstört und durcheinander geraten. „Ach so, dann ist es nicht Wal-Jona, sondern der Chaot vom Dienst Jona“ – „Ganz genau! Jedes Lager hat so einen Jona“ – „That´s right! Josua for example is our Jona…”
„Was passiert eigentlich wenn Zivilisten herkommen?“
„Das passiert nicht oft. Joseph hier – er wohnt in der Nähe und über ihn pachten wir das Grundstück. Deswegen wissen eigentlich alle im Dorf Bescheid und kommen nicht her.“
Da lachte Joseph: „Naja einmal kamen Wanderer hier vorbei und haben die Polizei gerufen weil sie ´ein paar Irre mit Waffen im Wald´ gesehen haben. Als die Polizisten dann hier aufgetaucht sind waren sie einfach nur amüsiert“
Normal gekleidete Menschen würden hier auch gar nicht hinpassen. Darüber konnte ich mir allerdings nicht lange den Kopf zerbrechen, denn der Kaffee war nun endlich fertig und die ganze Gesellschaft verlegte ihr Gespräch an den Tisch, der unter einem Zelt aufgebaut war. Obwohl Zelt hier vielleicht nicht das richtige Wort ist, es handelte sich dabei vielmehr um ein aufgespanntes Segeltuch als Regen und auch Sonnenschutz.
Nachdem alle Mägen erfolgreich gefüllt worden waren, zogen sich einige für ein Nickerchen in ihre Zelte zurück. Zu fünft blieben wir unterm Segeltuch zurück, bis auch der Kuchen aufgegessen war. Irgendwann zog einer der Darsteller ein kleines Büchlein aus seiner Manteltasche und begann einige Zeilen darin zu lesen, bis er fragte: „Willst du mal sehen?“ Wenige Sekunden später hielt ich ´Das Handbuch für Soldaten´ in der Hand. Es war winzig. Aber deswegen nicht weniger unterhaltsam.
Neben dem Lesen von Soldatenhandbüchlein und einmonatig erscheinenden Zeitungen wurden während des Civil War zum Zeitvertreib außerdem viele Lieder gesungen: „Bob Tail Nag“, „Carry me back to old Virginny“, „Hard Times come again no more“… Die Lieder stammten von sogenannten „Song Sheets“, die man für wenig Geld erwerben konnte.
Der Wald wird zur Zeitschleuse in den amerikanischen Bürgerkrieg
Ein Ereignis, dessen Name in der kleinen Runde immer wieder fiel, war das Winterlager. Dabei handelt es sich um eine Civil War Darstellung über eine Dauer von zehn Tagen. Aufgrund der Kälte übernachtet man in kleinen Holzhütten, allerdings haben diese kein richtiges Dach – stattdessen wird ein Leinentuch über die Holzwände gespannt. Das mag sich für Außenstehende nicht besonders verlockend anhören, aber unter den Soldaten des Regiments wurde nur in den höchsten Tönen davon gesprochen. Bei der derzeitigen Wochenend – Darstellung teilte man sich zu dritt ein Zelt und schlief auf strohgefüllten Leinensäcken. Was aber niemals fehlt: die typische, rote Schlafmütze, ein in Wintertagen hoch geschätztes Mittel gegen die Kälte. Die machte uns auch jetzt zu schaffen, bildete das Zelt, an den Seiten offen, doch keinen idealen Schutz vor dem Regen und die Kälte kroch langsam durch Schal und Decken in unsere Glieder. „Der Wald ist wie eine Zeitschleuse…“ sagte Josua neben mir in die Stille hinein, die anderen am Tisch nickten stumm und zustimmend. Tatsächlich fühlte ich mich unter den Darstellern ins 19.Jahrhundert zurückversetzt.
Aufgrund der Kälte sollte ich nicht mehr mitbekommen wie das Regiment um Harpers Ferry am darauffolgenden Sonntag seine Zelte und Habseligkeiten zusammenpackte und die Lichtung so menschenleer verließ, wie sie sie vor drei Tagen aufgefunden hatten. Aber für alle Wissenden – dazu zählt nun auch ihr Leser – bleibt die auf ihr gelebte Geschichte zurück.
Der historische Darstellungsverein München e.V. möchte Geschichte von mehreren Seiten beleuchten, so wechseln sie auch in den Darstellungen des Bürgerkrieges immer wieder zwischen Nord und Südmännern, unterschiedlicher Herkunftsstädte. Es handelt sich bei ihren Nachstellungen also nicht um Kriegsverherrlichung. Vielmehr wollen die Darsteller die Geschehnisse der entsprechenden Zeit nachempfinden, Geschichte leben.
Die Autorin dieses Beitrags Elina Messfeldt studiert Kunstgeschichte an der LMU München. Dieser Artikel ist im Rahmen des Kooperationsprojekts von Geschichte-Lernen.net mit Nomen Nominandum entstanden und auch im Printformat in der zweiten Ausgabe 2016 des studentischen Magazins im Oktober 2016 erschienen.