Die Ausweitung der Komfortzone auf das Proletariat – Arbeiter erholen sich im Urlaub am Strand
Bestrebungen, Arbeitern Urlaub zu ermöglichen, existierten in Deutschland seit Mitte der 1880er Jahre. Anfangs allerdings nicht von der Arbeiterbewegung ausgegangen, sondern vom linksliberalen Bürgertum, die an einem guten Verhältnis zur Belegschaft interessiert waren – aber auch daran, den wachsenden Einfluss der sozialistischen Arbeiterbewegung zurückzudrängen. In ausgewählten Betrieben kam so erstmals* auch „der kleine Mann“ in den Genuss von Erholungsurlaub. Als ab 1900 der Arbeiterurlaub in einigen Branchen tarifvertragliche Normalität zu werden begann, entwickelten sich verschiedenen Frühformen des Arbeitertourismus.
Wie bereits angesprochen, war es nicht die sozialdemokratische Arbeiterbewegung gewesen, die sich vor dem Ersten Weltkrieg für Arbeiterurlaub starkgemacht hatte. Hintergrund waren wichtigere sozialpolitische Themen für die Sozialdemokratie, wie die Erhöhung der Löhne, die Durchsetzung von Tarifverträgen und die Abschaffung der Sonntags- und Nachtarbeit. Dagegen bemühten sich vor allem linksliberale, bürgerliche Sozialpolitiker und aufgeschlossene Unternehmer darum, auch Arbeitern eine jährliche Erholungspause zu ermöglichen. Die Motivation dahinter setzte sich aus mehreren Beweggründen zusammen. Einerseits war es die Meinung, die „soziale Frage“ durch Maßnahmen direkt in den Unternehmen am besten lösen zu können.
Aber auch die Einsicht, dass dem wachsenden Einfluss der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung nicht nur mit Sozialistengesetzen und Sozialgesetzgebung beizukommen sei, spielte eine Rolle. Ein ganz pragmatischer Grund für Arbeiterurlaub bestand darin, dass vollkommen ausgebrannten und (durch die harte Arbeit) erkrankten Arbeitern eine längere Erholungszeit gewährt werden sollte. Das vorrangige Ziel bestand also darin, deren Arbeitskraft wieder umfassend herzustellen, um danach wieder voll von der Arbeitskraft profitieren zu können. Neben den Aktivitäten sozialer bürgerlicher Vereine und Unternehmer fungierte aber auch noch eine weitere Entwicklung als zentrale Vorbildfunktion für eine allgemeine Urlaubsgewährung für Arbeiter: das Aufkommen von Urlaub für Beamte und Angestellte seit 1873.
1888 bei den Leipziger Buchdruckern – Der erste Arbeiterurlaub überhaupt
Zum ersten Mal überhaupt lässt sich Arbeiterurlaub 1888 bei der Leipziger Buchdruckerei C. G. Naumann in den Quellen nachweisen. Bis 1900 gab es Urlaubsregelungen nur bei 70 bis 80 Firmen, welche vor allem in der polygrafischen Industrie angesiedelt waren. Dies waren vorwiegend kleine und mittlere Betriebe, in denen oft besondere Beziehungen zwischen Chefetage und Arbeiterschaft bestanden. Arbeiterurlaub wurde oft aus besonderen Anlässen wie z. B. Firmenjubiläen gewährt. Ferien waren dabei meist nicht regelmäßig und vom Gutdünken des Unternehmens abhängig. Insgesamt hatten vor 1900 kaum mehr als 9.000 bis 10.000 Arbeiter im Deutschen Reich irgendeine Form von Anspruch auf Erholungsurlaub. Dies entspricht lediglich einem Gesamtanteil von 0,7 Prozent der Arbeiterschaft und ein Rechtsanspruch bestand nirgendwo. Urlaub war für den Arbeiter allein eine Wohlfahrtseinrichtung der Unternehmer und wurde oftmals rein zweckmäßig eingesetzt: Als Mittel zur Belohnung, Disziplinierung und Bindung der Arbeiter an den Betrieb.
Die Jahrhundertwende — Auf dem Weg zum tarifvertraglich vereinbarten Jahresurlaub für Arbeiter
Dies änderte sich ab 1900, als zu den Branchen, in welchen Arbeitern ein Erholungsurlaub gewährt wurde, die gewerkschaftlich besonders gut organisiert Brauerei-Industrie hinzukam. Dabei fand sich 1903 zum ersten Mal die Regelung des Jahresurlaubs in einem Tarifvertrag. Das Beispiel machte Schule und in der Folgezeit wurde tarifvertraglich festgelegter Urlaub bei den Brauern zur Selbstverständlichkeit. Damit war bei den Brauereien – anders als zuvor im Druckgewerbe – der Urlaub nicht mehr ausschließlich vom Wohlwollen und der Willkür des Firmeninhabers abhängig.
Den eigentlichen Durchbruch erlangte der tarifvertraglich festgelegte Arbeiterurlaub aber in den Verträgen der Staatsarbeiter. Die Allerersten waren die württembergischen Eisenbahner, welche 1899 per Ministerialverfügung Urlaub erhielten. Wie bereits angesprochen, fungierte dabei die Einführung von Erholungsurlaub für Beamte und Staatsangestellte als Vorbild. Nach der Einführung von Arbeiterferien in Bergwerken, Hütten und Salinen der kaiserlichen Werft und der königlichen Porzellanmanufaktur hatte sich der Urlaubsgedanke für Reichs-, Staats- und Gemeindearbeiter bis 1908 endgültig durchgesetzt.
Zum Zeitpunkt des Jahres 1910 lässt sich schließlich konstatieren, dass über 50 Prozent der Arbeiter im Brauerei- und Mühlengewerbe und fast 35 % der Werktätigen im polygrafischen Gewerbe Urlaub gewährt wurde. Außerdem hatte sich der Gedanke der Arbeiterferien auch bei den Staatsarbeitern durchgesetzt. Im Gegensatz dazu war aber in manchen Industriezweigen, wie z. B. dem Privatbergbau, Maschinenbauindustrie, Textil- und Bekleidungsbranche, Arbeiterurlaub weitgehend unbekannt. Wurde hier dennoch eine Erholungsfreizeit gewährt, dann immer noch als Wohlfahrtseinrichtung des Unternehmers. Vollständig durchsetzen konnte sich Arbeiterurlaub erst in der Weimarer Republik und im Dritten Reich.
Ausprägungen des Arbeitertourismus im Kaiserreich
Die oben beschriebenen Vorgänge führten also schon im deutschen Kaiserreich zu einem begrenzten Ausmaß an Arbeitertourismus. So konnte das Proletariat beispielsweise mit Hilfe wohltätiger bürgerlichen Vereine einen ersten Urlaub erleben. Ein Beispiel für eine solche Institution stellte der 1985 gegründete „Bergische Verein für das Gemeinwohl“ dar. 1887 stiftete der Bankier August von der Heydt dem Verein Geld für ein Grundstück, auf dem nach seinem Willen ein Arbeiterheim zu Erholung gebaut werden sollte. Das Ferienheim ermöglichte 30 erholungsbedürftigen Arbeitern eine zwei- bis dreiwöchige Auszeit vom Arbeitsalltag und sollte somit der Wiederherstellung der Arbeitskraft des Arbeiters dienen.
Eine erste sog. „Arbeiterdelegationsreise“ führte im Juni 1862 immerhin 65 ausgewählte Kölner Arbeiter zur Weltausstellung nach London. Vor dem Hintergrund, dass man die Arbeiterschaft an den deutsch-nationalen Gedanken binden wollte, wurden diese Reisen durch eine Spende des deutsch-nationalen „Deutschen Nationalverein“ von 2.400 Gulden möglich. Die Arbeiter sollten von ihren Erfahrungen berichten, ihre Einsichten darstellen und somit für eine gewisse Breitenwirkung auf die Arbeiterschaft sorgen. 1867 übernahm der bürgerliche „Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klasse“ die Idee und schickte Arbeiter in den folgenden Jahren zu den Weltausstellungen nach Paris, Wien und Philadelphia.
Auch weiterhin machte das Beispiel Schule und in der Folgezeit schickten einzelne Unternehmer fähige Arbeiter als Belohnung und Motivation für weitere Höchstleistungen auf Ausstellungen und Messen. Auch Berufsgenossenschaften, Arbeiterbildungsvereine und Gewerbevereine ermöglichten Arbeitern, Ausstellungen zu besuchen. Dabei stand nicht mehr nur der betriebliche Nutzen im Vordergrund, sondern man wollte auch die Arbeiterbildung zum Selbstzweck fördern. Als Beispiel steht die Farbenfabrik Bayer, wo ein Direktionsmitglied 2.500 Reichsmark stiftete. Von den Zinsen wurden jährliche Arbeiterreisen zur Belehrung und Erholung durchgeführt.
Arbeiterfahrten wurden aber keinesfalls nur von bürgerlicher Seite durchgeführt, manche Arbeiter reisten auch mit der sozialistischen Idee im Reisegepäck und die sozialdemokratische Arbeiterkulturbewegung nahm sich früh der Sache reiselustiger Arbeiter an. So gründeten wanderfreudige Arbeiter zusammen mit hochrangigen österreichischen Sozialdemokraten 1895 den sozialdemokratische Wanderverein „Touristenverein der Naturfreunde“ in Wien. Die Vereinsidee verbreitete sich in raschem Tempo, auch außerhalb Österreichs. Vor dem Hintergrund einer fehlenden Massenbasis blieben die Naturfreunde bis 1914 aber ein eher loser Zusammenschluss von lokalen Organisationen mit nur einigen tausend Mitgliedern, die meist am Wochenende wanderten. Erst mit der weiteren Durchsetzung von Arbeiterurlaub in der Weimarer Republik begann ein rapides Wachstum des Vereins.
Schon im Kaiserreich ist auch Arbeiter-Individualtourismus nachzuweisen, wie das Beispiel des proletarischen Globetrotters Fritz Kummer zeigt. Kummer beschreibt in seinem Reisebericht, „Eines Arbeiters Weltreise“ Anfang 1903 eine 3-jährige Weltreise: Als Metallfacharbeiter fand Fritz Kummer meist problemlos Arbeit. So konnte er sich seine (durchaus relativ komfortablen) Reisen selbst finanzieren. Kummers Ziel auf Reisen bestand v. a. im Studium der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse.
*Auf der sogenannten „Walz“ lernten Handwerkergesellen schon früher eine Art des Arbeiterurlaubs kennen.
Artikel erstmals veröffentlicht am 14. Juli 2015
Google und Geschichte – Robin Brunold studierte neuere und Neueste Geschichte, Mittelalterliche Geschichte und politische Wissenschaften und absolvierte seinen Magisterabschluss im Januar 2013 an der LMU München. Davor hat er die Waldorfschule Ismaning besucht und mit dem externen Abitur abgeschlossen. Heute arbeitet er selbstständig im Bereich Suchmaschinenmarketing und als Freier Historiker.
Literatur und Auswahlbibliographie
- Hachtmann, Ruediger: Tourismus-Geschichte. 2007*.
- Reulecke, Jürgen: Vom Blauen Montag zum Arbeiterurlaub. Vorgeschichte und Entstehung des Erholungsurlaubs für Arbeiter vor dem ersten Weltkrieg; in: Archiv für Sozialgeschichte, Band 16, 1976. Seite 205 – 248.
- Andrea Westhoff / Justin Westhoff im im Deutschlandfunk am 05.07.2018 Tourismusforschung: Eine kleine Kulturgeschichte des Urlaubs https://www.deutschlandfunk.de/tourismusforschung-eine-kleine-kulturgeschichte-des-urlaubs.1148.de.html?dram:article_id=421894 – Datum der letzten Einsichtnahme: 17.01.2021