Die Stadt Köln 1945 in einer Luftaufnahme, die ein großes Ausmaß der Zerstörung zeigt
Die These der „Stunde Null“ ist vor allem von Geschichtswissenschaftlern der frühen Ära Adenauer diskutiert worden. Befürworter der These argumentieren, dass nach 1945 die totale Selbstaufgabe aller althergebrachten deutschen Werte stattgefunden habe.
Bis heute erörtern Experten die Theorie einer „Stunde Null“ kontrovers: Verlor Deutschland jegliche Selbstbestimmung unter alliierter Militärbesatzung, als nach der totalen Niederlage Nazi-Deutschlands die Wehrmacht bedingungslos kapituliert hatte?
Definition: „Stunde Null“
Der Begriff von der „Stunde Null“ geht wahrscheinlich auf den Titel von Roberto Rossellinis Film „Deutschland im Jahre Null“ von 1948 zurück. Kompakt dargestellt, besagt die anhängende Theorie, dass das (alte) deutsche Gesellschaftsgefüge zur Gänze aufgehört habe, zu existieren, als 1945 der Zweite Weltkrieg verloren gegangen war. Die Wehrmacht hatte bedingungslos kapituliert und die letzte amtierende Reichsregierung unter Großadmiral Dönitz war abgesetzt und verhaftet worden. Auf den totalen Krieg folgte die totale Niederlage und Deutschland verlor unter der Militärbesatzung jegliche Selbstbestimmung. Als Konsequenz sehen die Vertreter der These, dass sämtliche alten Werte von der deutschen Bevölkerung als widerlegt und diskreditiert empfunden worden wären. Somit habe das gesamte, gesellschaftliche (Wert-)Gefüge neu entwickelt werden müssen.
Contra: Keine umfassende Neuordnung der Gesellschaft
Der These von der „Stunde Null“ widersprechen eine ganze Reihe von Tatsachen: Zwar schliffen sich in der Nachkriegszeit – bedingt durch die allgemeine, unmittelbar herrschende Not – die Klassenunterschiede teilweise ab. Allerdings nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit und keinesfalls zur Gänze. Es erfolgte weder eine langfristige Um- und Neuverteilung der Besitzverhältnisse, noch wurden einschneidende Reformen am Wirtschaftssystem vorgenommen. Auch wenn in der Gründungsphase der Bundesrepublik ein staatssozialistisches Wirtschaftssystem in der Diskussion gestanden hatte, fand der Umbau zu einer sozialistischen Wirtschaftsordnung nie statt.
Weiterhin bestand nach dem Zweiten Weltkrieg eine weitgehende Kontinuität im öffentlichen Dienst fort. Trotz aller Versuche, die traditionell engen Verbindungen des Berufsbeamtentums mit dem deutschen Staat abzuschaffen, gelang es auch den (amerikanischen) Alliierten trotz intensiver Bemühungen nicht, diese „deutsche Institution“ aufzulösen. Auch blieb das in der Bismarck-Zeit angelegte deutsche System der Sozialversicherung aus Kranken-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosen-Versicherung in seinen Grundfesten bestehen. Man nahm in der Bundesrepublik nur einige Anpassungen vor und baute es weiter aus. Die hartnäckigste Kontinuität findet sich aber im Bildungsbereich, wo nachhaltige Reformen bis 1968 in der Bundesrepublik ausblieben. So hielt sich das mehrgliedrige Schulsystem, ebenso wie die Möglichkeit eine religiöse Bekenntnisschule zu besuchen, im Grundgesetz. Eine durchgreifende Auswechslung des Personals fand ebenso nicht statt, obwohl die Lehrerschaft nach 1945 als besonders belastet galt.
Contra Argumente: Stunde Null
- Keine langfristige Um- und Neuverteilung der Besitzverhältniss
- Keine umfassende Reform des Wirtschaftssystems
- Weitestgehende Kontinuität im öffentlichen Dienst: Fortbestehen des Berufsbeamtentums
- Die Grundfesten des Sozialsystems bleiben bestehen: Soziale Sicherung wird fort-, nicht neuentwickelt
- Keine Reform des Schulsystems in Westdeutschland. Fortbestehen des dreigliedrigen Schulsystems mit Bekenntnisschule
- Keine Auswechslung der Lehrerschaft, obwohl teilweise stark belastet durch ihre NS-Vergangenheit
Es finden sich also eine ganze Reihe von Tatsachen, die der These von der „totalen Selbstaufgabe“ des deutschen Volks widersprechen. Nichtsdestotrotz betonen angesehene Historiker, wie Heinrich August Winkler, dass es nach 1945 durchaus einschneidende Zäsuren gegeben habe. Die wichtigsten Veränderungen liegen dabei im Aufbruch der Machtstruktur der neuen deutschen Republik. Vor allem einige vormals gewichtige, antidemokratische Machtfaktoren wurden ausgeschaltet. So existierten bis 1955 überhaupt keine bewaffneten Verbände. Aber auch nach der Wiederbewaffnung 1955 bildete die Bundeswehr keinen „Staat im Staate“ mehr – so geschehen in der Weimarer Republik. Ganz im Gegenteil verpflichtete der Deutsche Staat seine neue Armee nun dem „Primat der Politik“ und somit umfassender parlamentarischer Kontrolle. Weiterhin trennte die deutsche Teilung durch Bildung der sowjetischen Besatzungszone den ostelbischen Rittergutsbesitz vom Westen ab. Die „Junker“ wurden bald von den Sowjets und der neuen sozialistischen Führung der DDR enteignet. Last but not least wurden im Zuge der Dezentralisierungspolitik der Alliierten die Betriebe der deutschen Großindustriellen v. a. in der Montanindustrie entflochten und der Mitbestimmung der Arbeitnehmer unterstellt. Ebenso sieht zumindest H. A. Winkler den Umstand, dass sich in der „Trümmergesellschaft“ – zumindest kurzfristig – die sozialen und gesellschaftlichen Stellungen verwischt haben, als einflussreich auf die Prägung der deutschen Nachkriegsgesellschaft an. nach oben ↑
Contra Argumente: Stunde Null
- Ausschaltung antidemokratischer Machtfaktoren
- Neue Armee (Bundeswehr) im Staatsgefüge integriert und parlamentarischer Kontrolle unterworfen
- Ostelbischer Rittergutbesitz („Ostelbische Junker“) vom Staatsgebiet abgetrennt
- Entflechtung der deutschen Groß- und Schwerindustrie durch die Alliierten
Fazit: These der „Stunde Null“ zu extrem
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die These von der „Stunde Null“ als zu extrem angesehen werden muss. So wird diese Behauptung von den meisten Experten als widerlegt angesehen. Die Bundesrepublik knüpfte sehr wohl 1949 an vielfältige Voraussetzungen und Traditionen an. Viele bestanden auch nach 1945 fort. Auf der anderen Seite erlangte die Bundesrepublik Deutschland im Laufe der 50er Jahre eine neue eigenständige Ordnung, die keinesfalls als bloße Kontinuität anzusehen ist: Die Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Artikel erstmals veröffentlicht am 2. August 2013
Google und Geschichte – Robin Brunold studierte neuere und Neueste Geschichte, Mittelalterliche Geschichte und politische Wissenschaften und absolvierte seinen Magisterabschluss im Januar 2013 an der LMU München. Davor hat er die Waldorfschule Ismaning besucht und mit dem externen Abitur abgeschlossen. Heute arbeitet er selbstständig im Bereich Suchmaschinenmarketing und als Freier Historiker.
Literatur und Auswahlbibliographie
- Bührer, Werner: Die Adenauer-Ära. Die Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1963. 1993*.
- Geppert, Dominik: Die Ära Adenauer. 2012.*.
- Hockerts, Hans-Günther: Gab es eine Stunde Null? Die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation in Deutschland nach der bedingungslosen Kapitulation, in: Grimm, Stefan (Hrsg.) Nachkriegszeiten. Die Stunde Null als Realität und Mythos in der deutschen Geschichte. 1996. S. 119-156.
- Morsey, Rudolf: Die Bundesrepublik Deutschland. 2000*.
- Görtemaker, Manfred: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. 2012*.
- Sontheimer, Kurt: Die Adenauer-Ära. Grundlegung der Bundesrepublik. 1991*.
- Winkler, Heinrich August.: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte. 2005.*.